Außen wie innen?

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„Das Leben des Menschen, der das innere Leben lebt, wird wie das Leben eines Erwachsenen, der unter vielen Kindern lebt. Dennoch scheint es nach außen hin keinen so großen Unterschied zu machen, wie er sich im unterschiedlichen Lebensalter zwischen Kindern und Erwachsenen zeigt, weil der Unterschied im Entwicklungszustand des Bewusstseins besteht, der nicht immer offensichtlich zu erkennen ist. Jemand, der das innere Leben lebt, erreicht ein viel höheres Alter als die ihn umgebenden Menschen, und dennoch ist seine äussere Erscheinung wie die jedes anderen Menschen. Deshalb eignet sich jener Mensch, der die Fülle des inneren Lebens verwirklicht hat, eine vollkommen andere Lebensführung an als derjenige, der gerade erst den Pfad betritt, oder derjenige, der intellektuell etwas über das innere Leben weiß, es aber nicht wirklich lebt.

Aber für denjenigen, der die Fülle des inneren Lebens erreicht, ist es eine große Freude, mit seinen Mitmenschen umzugehen, so wie es für Eltern eine Freude ist, mit ihren kleinen Kindern zu spielen. Es sind die schönsten Augenblicke in ihrem Leben, wenn sie selbst  unter ihren Kindern wie Kinder fühlen und an deren Spiel teilhaben dürfen. Gütige und liebevolle Eltern werden sich so verhalten, als wurden sie Tee trinken, wenn das Kind eine Puppentasse bringt, und als wurden sie sich darüber freuen; sie lassen in dem Kinde weder den Gedanken aufkommen, dass sie etwas Besseres seien, noch, dass dies etwas ist, woran sie eigentlich nicht teilhaben sollten. Sie spielen mit dem Kind, und sind mit ihm glücklich, denn das Glück des Kindes ist auch ihr eigenes.

Dies ist die Handlungsweise eines Menschen, der das innere Leben lebt, und aus diesem Grund stimmt er mit Menschen aller Entwicklungsstufen überein und harmonisiert mit ihnen, einerlei was für Vorstellungen, Gedanken, was für einen Glauben und welches Bekenntnis sie auch haben mögen; einerlei wie sie beten oder ihre religiöse Begeisterung zeigen. Er sagt nicht: „Ich bin sehr viel! entwickelter, als ihr es seid, und mit euch zusammen zu sein, wurde für mich einen Rückschritt bedeuten.“ Derjenige, der schon so weit vorangegangen ist, kann niemals mehr zurückgehen, aber wenn er mit ihnen zusammen geht, nimmt er sie mit vorwärts. Ginge er alleine weiter, so würde er merken, dass er seiner Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen ausweichen wurde, die er eigentlich erfüllen sollte. Der leere Krug gibt einen Ton, wenn du an ihn klopfst, aber der voll Wasser verursacht kein Geräusch; er ist still, sprachlos.“ (Hazrat Inayat Khan, Das Erwachen des menschlichen Geistes, Kapitel 29)

Vor einigen Tagen meldete ich mich auf der Facebookseite des jetzigen Inayati Ordens (dem vorherigen Sufi Orden) an. Schon bald nach der Anmeldung stellte ich fest, dass ich mit dem Inhalt des obigen Zitates massiv konfrontiert wurde. „Wir werden in unserer Liebe geprüft.“, lautet ein weiteres Zitat in diesem Zusammenhang.
Die Facebookseite ist relativ neu und ist eine Fortführung der bisherigen Seite des Internationalen Sufi Ordens (ISO). Dementsprechend waren auch die Posts relativ neu, verwiesen jedoch recht bald auf die altbekannte Frage: „Hat der ISO ein ‚Recht‘, sich als ‚Sufi‘ Orden zu bezeichnen?“ Das ist nun wirklich keine neue Frage und kann schnell beantwortet werden. Der ISO ist etwas anderes, als seine Mitglieder und Sympathisanten es oftmals gerne sehen möchten. Der ISO und seine Nachfolgeorganisation, der ‚Inayati Orden‘ sind von der Idee her tief verwurzelt im Gefüge der turuq des tasawwuf.

Im Selbstverständnis der überwiegenden Mehrzahl seiner Mitglieder jedoch eine Neo-Sufische Organisation. Eine überwiegende Mehrheit der Mitglieder, sowie ein nicht zu unterschätzender Anteil zumindest der deutschen Leitung, zeichnen sich durch Verleugnung der islamischen Wurzeln aus. Im Grunde würde vielleicht sogar eher die Bezeichnung ‚islamophobisch‘ zutreffen, die einen allgemeinen Trend der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung im sogenannten ‚Westens‘ widerspiegelt. Erschreckend ist für mich in diesem Zusammenhang das scheinbare Bedürfnis, die Wurzeln der eignen Institution zu verleugnen. Und auch mein eigenes Verhalten erschreckt mich. Nämlich dem Anspruch von Hazrat Inayat Khan nicht zu genügen – Freude an dem unreifen Verhalten der Islamophobiker um empfinden.

In einem wichtigen Teil meines Lebens kümmere ich beruflich um Menschen mit speziellen Bedürfnissen oder political incorrect gesagt, Behinderte. Bei diesen Menschen fällt es mir niemals schwer, den Anspruch von Hazrat Inayat Khan umzusetzen. Wir arbeiten gemeinsam an einer erfolgreichen und befriedigenden Bewältigung des Alltags und auch spiritueller Bedürfnissen. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten meiner KlientInnen sich aus tiefstem Herzen bemühen, ihre Situation trotz der Einschränkungen zu verbessern, dass ich diese Freude empfinde. Impulse meinerseits werden aufgenommen und versucht umzusetzen. Nicht sehr oft führen sie zum Erfolg, weil die Beschränkungen es nicht immer erlauben. Aber es wird immerhin versucht. Meine KlientInnen scheinen oft mehr Verständnis für die Pir Vilayat Inayat Khan’sche“ Maxime: „What if…“ aufzubringen, als viele Mitglieder des eingangs erwähnten Forums.

Beeindruckend bei meinen ‚Anvertrauten‘ ist die Bereitschaft, sich mit noch Unbekanntem zu beschäftigen. Was nicht immer einen Erfolg im landläufigen Sinn nach sich zieht, aber einen entscheidenden Schritt darstellt.
Im erwähnten Forum und etlichen gleich gelagerten, ist diese Einstellung nicht erkennbar und macht eben die angesprochene Milde im Sinne Hazrat Inayat Khans für mich schwierig zu leben. Um ein aktuelles Beispiel anzuführen. In einem Beitrag wurde pauschal geäußert, dass viele der ‚Großen‘ Sufis wegen ihrer Ansichten hingerichtet wurden. Auf die höfliche Nachfrage meinerseits, welche ‚großen Sufis‘ außer al Halladsch, Suhrawardi Maqtul und Fazlallah Astarabadi dies denn nun seien, folgte ein tagelanges Schweigen, während andere meiner Postings von der selben Person umgehend beantwortet/kritisiert wurden. Aus dem Nichts 😉 heraus wurde dann eine Antwort ohne inhaltliche Bezugnahme aber passiv aggressiver Aussage gepostet. Ich weiß bis heute nicht, welche ‚großen Sufis‘ im Sinne der Posterin nun hingerichtet worden sein sollen.

Nicht nur dieser eine herausgehobene Punkt zeigt, wie erschreckend gering der Erkenntnisgrad vieler MitgliederInnen Neo-Sufischer Organisation über die eigenen Wurzeln ist. Frau Professor Annemarie Schimmel, eine ausgewiesene Kennerin der Materie, hat sich des Öfteren ebenfalls entsetzt über die Wissen-Ignoranz vieler MitgliederInnen Neo-Sufischer Organisationen geäußert.

Ein Punkt, der immer wieder auffällt und mir eine Erfüllung des Hazrat Inayat Khan’schem Postulates nach Freude schwierig macht, ist seine nachfolgende Erwähnung der intellektuellen Auseinandersetzung eines bestimmtes Typus. Ich kann dies nachvollziehen und fühle mich an meine Jugend erinnert, in der ich es liebte Gegner mit intellektuellen Techniken niederzukämpfen.Wie bei einem Schwertkampf ging es darum, einen Kampf zu gewinnen, in dem die Argumente schlagend wurden. Diese Art des Debattierclubs stellt für mich schon lange keine Option mehr dar. Für mich taucht letztendlich aber die Frage auf – muss man jeden Unfug durchgehen lassen? Und hier beginnt die herausfordernde Begegnung mit Vertretern Neo-Sufischer Organisation.

Die entscheidende Frage lautet: „Passe ich meine Wirklichkeit den Fakten an, oder passe ich die Fakten meiner Wirklichkeit an?“ Mitglieder und einige Leiter Neo-Sufischer Organisationen scheinen dazu zu tendieren, objektive Fakten zugunsten der eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse  zu interpretieren oder gar zu verbiegen. Menschen, die es wagen dies zu kritisieren, werden gerne mal als Lügner oder als rückständig bezeichnet.  Eine Vorgehensweise, die ihre Entsprechung in der allgemeinen aktuellen politischen Vorgehensweise findet. Der Grad der Unterscheidung zwischen gewissen aktuellen politischen Bewegungen und einigen Mitgliedern von Neo-Sufischen Organisationen ist nicht mehr fliessend, sondern aufgehoben.

Zu hinterfragen ist, wie diese Mitglieder und Leiter allen Ernstes einen Universellen Gottesdienst feiern wollen. Bereits seit etlichen Jahren habe ich eine Tendenz beobachten können, die Kerze für den Islam anscheinend eher als Erfüllung einer auferlegten Pflicht, denn aus Überzeugung, anzuzünden. Ausnahmen bestätigen jedoch die Regel. Regelmäßig kommt mir eine bestimmte Aussage in den Sinn: „Sufitum ohne Islam ist wie eine Kerze, die im Freien brennt, ohne eine Laterne. Es gibt Winde, die die Kerze ausblasen könnten. Aber wenn Du eine Laterne hast mit einem Glas, das die Flamme schützt, wird die Kerze sicher weiterbrennen.“ (Sheikh Muzaffer Ozak, Liebe ist der Wein – Lehrgespräche eines Sufi-Meisters, Arbor Verlag Heidelberg, 1. Auflage 1991, S. 110)

(Ursprünglich Februar 2016 geschrieben, aber leider immer noch aktuell)

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