Das Walnussgleichnis

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„Diese irdische Welt ist eine Karawanserei auf dem Wege zu Gott, und alle Menschen finden sich in ihr als Reisegenossen zusammen. Da sie aber alle nach demselben Ziele wandern und gleichsam eine Karawane bilden, so müssen sie Frieden und Eintracht miteinander halten und einander helfen und jeder die Rechte des anderen achten.“ (Al-Ghazālī, Das Elixier der Glückseligkeit, Einleitung zum Kapitel- von dem rechten Umgang mit den Menschen, S. 75)

Wer einmal eine Reise mit einer bunt zusammengewürfelten Reisegruppe unternommen hat, weiß, dass ‚Frieden und Eintracht‘ in einer solchen Gruppe nicht einfach so entstehen. Ohne ein Regelwerk entgleitet jede Reise schnell zu einem Höllentrip. Ein solches Regelwerk wird auch für die spirituelle Reise benötigt, und zwar nicht nur für die Gruppe insgesamt, sondern auch für einen Einzelnen. Damit eine Reise gelingen kann, zumindest wenn sie ein Ziel hat, benötigt der Reisende einige Dinge. Zum Beispiel das Wissen um die Etappen der Reise wie Al Ghazali ausführt: „… dies alles musst Du wissen, um auch nur ein wenig von Dir selbst zu erkennen. Wer aber dies nicht weiß, der wird auf dem Weg des Glaubens Beschämung finden, und das wahre Wesen der Religion wird ihm verborgen bleiben.“ (Al-Ghazālī, Das Elixier der Glückseligkeit, aus dem Kapitel – von der Selbsterkenntnis, S, 36/37)

Der berühmte Sufi-Meister Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad al-Ghazālī stellt in seiner Schrift „Kimiya-yi Sa’ādat (Persisch: كيمياى سعادت, Das Elixier der Glückseligkeit) die Analogie der menschlichen Entwicklung im religiösen Kontext des Islam und einer Walnuss dar.

Al-Ghazālī verwendet die Analogie der Walnuss, um verschiedene Entwicklungsstufen auf der Reise zu erläutern. Ein Thema, das angesichts der derzeitigen Geschehnisse, von einiger Wichtigkeit ist. Im Zuge der allgemein verbreiteten Islam-Phobie und Propaganda versuchen leider auch Vertreter Neo-Sufischer Organisation immer wieder, oder andere, die sich als Berufene zu dem Thema sehen, die kulturell gewachsene Einheit zwischen taṣawwuf (Sufismus) und dem Islam zu verleugnen. Es werden dabei die Wurzeln gekappt und wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg verleugnet. Dies mag vordergründig egal sein, vergessen wird dabei aber gerne, dass es beim Menschen keine Entwicklung vom Krabbeln zum Fahrradfahren gibt, die ohne die notwendigen Zwischenschritte auskommt.

Einige Menschen mögen eventuell nie dem geistigen Krabbelstatus entrinnen, doch das steht auf einem ganz anderen Blatt. Wohl kaum Mensch beginnt sinnvollerweise das Fahrradfahren, ohne vorher alle notwendigen Schritte bis zur Entwicklung der Fähigkeit durchlaufen zu haben. Viele möchten jedoch gerne und ausschließlich mit dem Fahrradfahren beginnen und glauben, wenn sie auf die Schale verzichten, hätten sie bereits die Nuss geknackt.

„Den Eingang bildet die Erkenntnis von vier Dingen, dann kommen vier Pfeiler des Handelns, deren jeder zehn Hauptstücke umfasst. Diese vier Erkenntnisse sind die Eingänge der Erkenntnis des Islam; die Pfeiler aber, das Handeln des Islam, sind vier an der Zahl, zwei beziehen sich auf die äußeren und zwei auf die inneren Dinge.“ (Al Ghazali, Elixier der Glückseligkeit, S. 29)

Wie Al-Ghazālī beschreibt, gibt es im Glauben an Gottes Einzigkeit vier Stufen. „Die erste ist das Aussprechen der Worte: „Es gibt keinen Gott außer Gott“, ohne dabei irgendeine Regung im Herzen zu verspüren. Dies ist der Glaube der Heuchler.

Die zweite Stufe ist, obige Worte auszusprechen und von deren Wahrheit überzeugt zu sein. Dies ist der Glaubenssatz des einfachen Muslims.

Die dritte ist, die Wahrheit dieses Ausspruchs durch ein inneres Herzenslicht zu erfahren. Über die Vielzahl der Gründe und Ursachen gelangt die Vernunft zur Erkenntnis der Einzigkeit der ersten und letzten, der endgültigen, finalen Ursache. Dies ist die Stufe der Eingeweihten.

Die vierte ist ein Augenblick der Vision des Allumfassenden, des Einen, alles Einschließenden – und dabei selbst die Dualität des eigenen Selbst aus dem Blick zu verlieren. Dies ist die höchste Stufe des wahrhaft in Gott Ergebenen.“

Die Sufis bezeichnen diesen Zustand als: „fana fittauhid“ d.h. die Auslöschung der eigenen Individualität bei der Betrachtung der Einzigkeit Gottes.

Um das Gleichnis von Al-Ghazālī zu verwenden, können diese vier Stufen mit einer Walnuss verglichen werden, welche aus folgenden Teilen zusammengesetzt ist:

die äußere harte Schale,

die innere Haut,

der Kern und

dem Öl.

Die harte Schale hat einen bitteren Geschmack und besitzt eher keinen besonderen Wert, außer den, dass sie für eine Weile eine Schutzfunktion übernimmt. Wenn der Kern herausgeschält ist, verliert sie an Wichtigkeit.

Wie der Heuchler, der zwar die shahada (das Glaubensbekenntnis) ausspricht und daher mit den Muslimen gleichgesetzt wird und deren Privilegien in Sicherheit genießt, doch nach dem Tod von ihnen getrennt wird und kopfüber der Verdammnis verfällt.


Die innere Haut ist zwar brauchbarer, insofern sie den Kern schützt und auch konsumiert werden kann, doch reicht sie bei weitem nicht an den Wert des Kerns selbst heran. So ist dies auch mit dem dogmatischen Glauben des einfachen Muslims, als er wertvoller als das Lippenbekenntnis des Heuchlers zu werten ist, und ihm doch die wahre Einsicht fehlt, die so beschrieben wird: „Er, dessen Herz Allah fürr den Islam geöffnet hat, schreitet in Seinem Licht.“

Zweifellos ist der Kern die gewünschte Sache, doch beinhaltet er noch Substanzen, welche erst dann hervortreten, wenn das Öl ausgepresst wird. Gleichermaßen ist die Erkenntnis der allem zugrunde liegenden Ursache, das gewünschte Ziel des Ergebenen, wenn auch ein unter­ geordnetes zu dem der Vision des Allumfassenden, Heiligen, Einen – denn die Erfahrung der Kausalität beinhaltet immer noch Dualität.


Nun kann der Einwand vorgebracht werden: Wie kann man die Unterschiedlichkeit und Vielfalt im Universum ignorieren?
Der Mensch besitzt Hände und Füße, Knochen und Blut, Herz und Seele, alles voneinander verschieden und dennoch ist er ein Individuum. Wenn wir an einen lieben alten Freund denken und er plötzlich vor uns steht, denken wir nicht an die Vielzahl seiner körperlichen Organe, sondern sind erfreut, ihn zu sehen. Dieses Gleichnis, auch wenn es nicht wirklich angebracht ist, ist wenigstens für den Anfänger ganz anschaulich. Wenn er diese Stufe erreicht, wird er/sie dessen Wahrheitsgehalt erkennen. Worte reichen nicht aus, um die Schönheit dieser höchsten Stufe zum Ausdruck zu bringen. Sie kann erlebt, aber nicht beschrieben werden.“

Unter Sufis ist die Lehre weit verbreitet, dass es zur Erreichung des spirituellen Zieles im Allgemeinen vier Stufen zu bewältigen gilt. Den jeweiligen Stufen sind Entwicklungsstufen der nafs zugeordnet, die wiederum ihre Widerspiegelung im Walnuss-Gleichnis Al-Ghazālīs finden. Es sind dies die Stufen scharīʿa (exoterischer Pfad), tarīqa (esoterischer Pfad), ḥaqīqa (mystische Wahrheit) und marifa (vollendete Erkenntnis).

Scharīʿa

Scharīʿa ist das islamische Recht, wie in dem Koran und Sunna offenbart wurde. Der erste Schritt im Sufismus besteht darin, die Aspekte und Vorschriften des Gesetzes zu befolgen. Der Zweck dieser Übung besteht darin zu lernen, durch Selbstdisziplin und ständige Aufmerksamkeit sein eigenes Verhalten, Widerstände und Konditionierungen zu erkennen. Wenn der Sufi sein Leben nach der scharīʿa ausrichtet, kann er durch diese Überprüfung wichtige Erkenntnisse erlangen, die ihn befähigen, die zweite Stufe zu erklimmen. Hier kommt das Zitat ins Spiel: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.“ In dieser Phase ist es möglich von der Stufe der nafs ammara zur Stufe der nafs lawwama aufzusteigen. Die Stufe entspricht der Nussschale. Sie gibt Halt und schützt die Entwicklung. Eine Nuss ohne äußere Hülle zu pflanzen, um sie wachsen zu lassen wird dazu führen, dass sie nicht wirklich wächst und oft sogar zerstört wird.

Tarīqa

Tarīqa bedeutet im Arabischen „Weg“ und bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Sufi-Bruderschaft. Hier lernt der Schüler/murid durch spezielle Übungen/vazaif, die aus verschiedenen Aufgaben bestehen können, sich weiter zu entwickeln. Die Stufe entspricht der Haut der Walnuss. Der Reisende befindet sich jetzt auf der Stufe der an-nafs al-mulhima. Ist diese Stufe durch erfolgreich absolviert, steigt man auf die Stufe der an-nafs al-mutma’inna auf. Sie ist die Grundlage für tiefe Erfahrungen jenseits von Intellekt und Vorstellung.

Haqīqa

Haqīqa ist als Begriff schwierig zu übersetzen. In der islamischen philosophischen Theologie wird sie oft definiert als „das, was real ist, echt, authentisch, was ursprünglich wahr ist. ḥaqīqa kann am besten als das Wissen, das aus der Gemeinschaft mit Gott kommt, definiert werden, Erkenntnisse dieser Art sind erst nach dem Absolvieren der erforderlichen Schritte in der tarīqa möglich. Man ist zu Kern der Walnuss vorgestoßen. Am Anfang dieser Phase steht die Stufe der an-nafs ar-radiya ist das erfreute Ich. Diese Stufe weist zu den Merkmalen der vorgehenden noch zusätzlich auf, dass der Mensch auf der Suche nach Gott auch mit allen Schwierigkeiten, die ihm begegnen, zufrieden ist. Er erfreut sich gänzlich an der Schöpfung Gottes. Beim Fortschreiten in der Entwicklung ist es möglich die Stufe der an-nafs al-mardiya zu erreichen. Auf dieser Stufe ist der Mensch nicht mehr gespalten zwischen den materiellen Wünschen und der Sehnsucht nach Gott. Man erreicht vielmehr konstante innere Einheit und das Gefühl eines vollständigen Wesens. Ebenso erfährt man die Welt um sich herum als ein Ganzes. Die Erkenntnis führt zur nächsten Stufe.

Ma’rifa

Ma’rifa bedeutet wörtlich Wissen und ist der Begriff, den Sufis benutzen, um mystisch intuitives Wissen der spirituellen Wahrheit zu beschreiben. Dieses Wissen wird durch Erfahrungen jenseits der Person und des Ichs erlangt, anstatt also offenbart oder rational erworben zu sein. Dies ist das Öl oder die Essenz des Kerns. Die Entwicklungsstufe der an-nafs as-safiya ist das reine Ich. Diese Stufe wird wahrscheinlich nur von einigen wenigen Personen erreicht, zu denen laut der Lehre der Sufis ausschließlich die Propheten und die spirituell voll entwickelten Heiligen (Männer wie Frauen) zählen. Auf dieser Stufe ist im Menschen kein Ego mehr übrig, es existiert nur noch die Einheit mit Gott (tawhid).

Diese Schritte sind seit vielen Jahrhunderten erprobt und können zum Erfolg führen. Auch wenn die Einschränkung gilt, wie Al-Ghazālī deutlich klarstellt – Nicht jeder der säe, ernte auch; nicht jeder, der wandere, gelange auch ans Ziel und nicht jeder der suche, fände auch.

Seine Warnung beinhaltet die Aussage, dass je kostbarer ein Ding sei, desto mehr Bedingungen seien daran geknüpft und um so seltener sei es zu finden. Warum es sich also schwerer machen und freiwillig auf ein Navi verzichten, um ans Ziel zu gelangen?

„… jene, die glauben und deren Herzen im Gedenken Gottes Ruhe finden – denn wahrlich, im Gedenken Gottes finden die Herzen (der Menschen) Ruhe: – (und so ist es, dass) diejenigen, die Glauben erlangen und rechtschaffene Taten tun, zur Glückseligkeit (in dieser) Welt und zum schönsten aller Ziele (im kommenden Leben) bestimmt sind!“. (Qur’an Sure 13, Vers 28/29)

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