Der Dhikr der sieben Stellvertreter

Veröffentlicht am

„Der Leib ist wie Maria. Jeder von uns hat einen Jesus, aber ehe sich in uns kein Schmerz zeigt, wird unser Jesus nicht geboren. Wenn der Schmerz niemals kommt, geht Jesus zu seinem Ursprung zurück auf demselben geheimen Weg, wie er gekommen war und wir bleiben beraubt und ohne Anteil an ihm zurück.“
Jalal-ud-din Rumi (übersetzt von Schimmel, Annemarie in „Meine Seele ist eine Frau – das Weibliche im Islam“, Kösel Verlag, 1995, Seite 96)

Dhikr (arab: ‏ذكر‎, auch: Zikr/Zekr) bedeutet wörtlich ‚Gedenken, Erinnerung’. Gemeint ist damit die intensive Erinnerung an das Göttliche und dessen Anwesenheit. Der Dhikr gilt als eine Art Werkzeug dafür, sich dieser göttlichen Anwesenheit bewusst zu werden.

Im Allgemeinen existieren verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffes Dhikr und seine unterschiedlichen Praktiken, denen man alleine eine Abhandlung widmen könnte. Hier soll angesichts des Themas jedoch nur eine kurze Betrachtung unternommen werden. Eine sehr häufig angeführte Begründung für den ‚Sinn’ des Dhikrs ist der Bezug auf den 152. Vers der zweiten Sure des Qur’ans. Der Satz „adhkurunî adhkurkum“ kann mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen übersetzt werden. Einerseits mit: „Erinnert euch Meiner, so werde ich Mich eurer erinnern“. In dieser Bedeutungsebene zeigt der Dhikr die Rückbesinnung auf die Einheit zwischen dem Schöpfer und Seiner Schöpfung und deren Bewusstwerdung auf. Bei dieser Verschmelzung erfolgt durch die ‚Erinnerung’ ein Eintritt in die ewige Wirklichkeit (al haqq) und damit gleichzeitig in deren Zeitlosigkeit und reine Gegenwart. Ein Vorgang, der in der Sufiterminologie meist als ‚Erwachen’ beschrieben wird.

Eine alternativ mögliche Übersetzung: „Nennt Mich, so werde Ich euch nennen“ (Burckhardt, Titus, „Eine Einführung in den Sufismus”) vollzieht für den hier beschriebenen Dhikr einen weiteren Schritt. Mittels der zielgerichteten Anrufung, etwa der Göttlichen Attribute, und der synchron einhergehenden Vereinigung mit der Göttlichen Wirklichkeit werden vorhandene Möglichkeiten ins Dasein gerufen. Der zeitlose Schöpfungsakt wird analog vollzogen, so dass wie in einem Spiegel die vorhandenen elementaren Bereiche des Kosmos und seine Entsprechung der geistigen Ordnung zur Wirkung kommen. Diese Bedeutung hat für die weitere Beschreibung des vorgestellten Dhikrs eine entscheidende Relevanz. Sie zeigt ein wesentliches Ziel der Übung auf. Mit Hilfe des Dhikrs kann sich die Transformation des überförmlichen Geistes in die elementengebundene Form vollziehen – das Erwachen ins Leben.

Der Sufimeister Hazrat Inayat Khan schildert, in welcher Weise das Üben und Praktizieren des Dhikrs als Grundlage der Transformation dient, um ,erfolgreich’ im Sinne der eigenen spirituellen Entwicklung sein zu können: „Der Sufi bereitet sich selbst durch die Übungen des Dhikrs und Fikrs darauf vor, sein Herz zu befähigen, die Schwingungen zu erzeugen, die auf der Erde entstehen oder aus dem Himmel herabklingen. Wenn die feinstofflichen Zentren des Körpers und die Fähigkeiten des Gemütes sich entwickelt haben, diese Schwingungen zu erzeugen, dann können sie jede Schwingung erwidern. Jedes Mal, wenn eine Glocke läutet, erklingt ein Widerhall im Herzen des Mystikers und jedes seiner feinstofflichen Zentren beginnt, sich an Gott zu erinnern und Ihn zu spüren.“ Hazrat Inayat Khan, Volume XIII – The Gathas, 6. Bells and gongs

Hier soll eine spezielle Form des Dhikrs, der ‚Dhikr der sieben Stellvertreter’ vorgestellt werden. Diesen Dhikr habe ich bei einem Retreat durch meinen damaligen Lehrer Munir Klaus Voß kennengelernt und über einen langen Zeitraum täglich praktiziert. Dieser spezielle Dhikr geht nach Aussage von Munir Voß auf den berühmten Sufi Meister Muhyi-ud-din Ibn Άrabi zurück. Daher habe ich diesen Dhikr nicht nur in der täglichen Übung, sondern auch bei meinen regelmäßigen Besuchen im Mausoleum von Muhiy-ud-din Ibn Άrabi in Damaskus durchgeführt.

Die Erläuterungen zu diesem Dhikr erschienen mir jedoch spärlich und eher unzureichend. Meine Anfrage nach näheren Erläuterungen konnte von Munir Voß für mich nicht erschöpfend befriedigt werden, zumal er keine sicheren Quellen nennen konnte und obendrein zugab, eigentlich alle seiner Erläuterungen zu dem Dhikr Ibn Άrabi ‚in den Mund gelegt’ zu haben. Mitschriften von Munir Voß Meditationsanleitungen zu diesem Thema, wie z.B. die von Naqib Dietrich aus dem Tessiner Camp von 6/2000 publizierte, belegen darüber hinaus, dass selbst diese ,Pseudo-Ibn-Arabismen’ obendrein historisch nicht korrekt sind. Zudem haben sich bei mir in der Durchführung des Dhikrs auch immer wieder spezielle Probleme gezeigt, die später noch näher erläutert werden. Aufgrund meiner Erfahrungen habe ich diesen speziellen Dhikr tiefer erforscht und versucht, weitere Hintergrundinformation dazu zu sammeln. Möglicherweise werde ich dazu verdammt sein, ein ähnliches Schicksal wie Muhiy-ud-din Ibn Άrabi und seine Zitate zu erleiden, auch wenn ich es nie wagen würde, mich ansonsten mit ihm auf eine Stufe stellen zu wollen. Aber da ich die ausgeprägte Neigung eines bestimmten Leiters im Sufi Orden Deutschland kenne, guttenbergisch zu handeln, um das eigne Licht heller erstrahlen zu lassen, möchte ich feststellen, dass es sich hier ausschließlich um meine authentischen Erfahrungen und Erforschungen handelt. Sollten also Teile aus diesem Text als Brennstoff für eine Lampe verwendet werden, ohne dass die Quelle ehrlich erwähnt wird, handelt es sich eben nicht um meine authentische Erfahrungen und Erforschung, sondern eventuell um ein Surrogat.

Der Dhikr der sieben Stellvertreter ist nicht mit der Übung der ‚sieben führenden Namen’ (asmâ’ al-a’immat as-sab´a) zu verwechseln, die beispielsweise im Jahr 2004 von Pir Zia Inayat Khan als allgemeine Monatsübung für die Murids des Internationalen Sufi Ordens publiziert wurde.

Der Dhikr der sieben Stellvertreter bezieht sich von seiner Bezeichnung her auf einen Ausschnitt der allgemein verwendeten Vorstellungen und Lehren der Sufis über einer spirituelle Hierarchie in der Welt, wie sie auch von Muhyi-ud-din Ibn Άrabi in seinen Schriften dargestellt wird. Ibn Άrabi kann aber keinesfalls als der Erfinder dieser Sichtweise gelten, denn die Lehre über eine spirituelle Weltordnung erscheint bereits im neunten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in den Schriften von al Tirmidhî und Abd ar Razzaq und gehört seit dieser Zeit zum ‚Repertoire’ der Sufis.

Speziell Tirmidhî beschreibt darin ein System der Klassifizierung einer spirituellen Hierarchie, das sich in konzentrischen Ringen darstellt, die sich ähnlich wie die Ringe eines ins Wasser geworfenen Steines, von der höchsten Autorität, dem quţb, (Pol, Achse) her ausbreiten.

Die Mitglieder dieser spirituellen Hierarchie werden landläufig als ‚Freunde Gottes’ bezeichnet, wobei noch rangmäßige Unterscheidungen getroffen werden. Auch wenn der Begriff oft mit ‚Heilige’ übersetzt wird, deutet er doch in eine andere Richtung, denn ein walí Alláh (walí, Pl. awliyá) entspricht nicht einem Heiligen im christlichen Sinne. Die Bezeichnung ‚Freund’ bezieht sich sinngemäß auf ‚einen vertrauten Freund Gottes’, der unter besonderen göttlichen Schutz steht. Wie überwiegend üblich im Zusammenhang mit Lehrinhalten der Sufis findet sich die Quelle zu dieser Ableitung im Qur’an; in diesem Fall dem 62. Vers der zehnten Sure „Wahrlich die Freunde Gottes, keine Furcht kommt über sie, noch sind sie traurig“. Sie gelten als ausgewählte Menschen, die infolge von göttlicher Gnade ein exemplarisches Leben führen und ihren Mitmenschen als Vorbildern dienen können.

Tirmidhî definierte zudem die Mitglieder der spirituellen Hierarchie eindeutig in ihrer Aufgabenstellung und Rolle. Diese Definitionen werden seither durchgängig bis heute im Sufismus als grundlegende Lehre angesehen und vermittelt. Ibn Άrabi hat bei seiner Beschreibung diese Einteilung ebenfalls verwendet, weswegen die Benennung dieses Dhikrs wegen einer bestimmten Ebene in der spirituellen Hierarchie erfolgte.

In Entsprechung an die spiegelbildliche Existenz in Geist und Form wird oft das Bild verwendet: „Denn wie die sich drehende Welt eine Achse haben muss, die zum Zentrum, dem Pol, führt, so muss auch die geistige Welt eine Achse dieser Art haben, durch die die direkte Beziehung zum Zentrum des Geistigen ermöglicht wird.“ (Schimmel, Annemarie in „Sufismus – eine Einführung in die islamische Mystik“, S. 73-75)

Laut Tirmidhî baut sich die Hierarchie wie folgt auf:

in der Mitte befindet sich der quţb ‚Pol/Achse’,
er wird umringt von drei nuqabá, ‚Substitute’,
dann folgen vier autád, ‚Pflöcke’,
sieben abrár, ‚Fromme’,
vierzig abdál, ‚Ersatzleute’,
und dreihundert achyár, ‚Gute’

Gemeinsam bilden sie die ‚wilayat khaasa’, die Gemeinschaft der fortgeschrittenen Mystiker.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Antwort, die in einer Anekdote über Nur ud-din ‚Abd al-Rahman ibn Ahmad al-Jami (816-897/1414-1492) berichtet wird. Jami wurde von jemandem gefragt, wie viele abdál es gäbe. Seine Antwort lautete: „Vierzig Seelen.“ Auf die Nachfrage, warum er nicht vierzig Männer gesagt habe, antwortete er, dass es unter ihnen auch Frauen gäbe.

Zusätzlich leben in der Welt noch viertausend awliyá „Freunde“, die sich jedoch untereinander nicht kennen und denen ihr Status oft sogar ihnen selbst, aber zumindest der Allgemeinheit verborgen ist. Sie bilden die sogenannte ‚wilayat aama’, die Gemeinschaft der Freunde Gottes

Damit zeigt sich in ihrer Gesamtheit her eine symbolische Anzahl von insgesamt sieben Gruppierungen. Auch in der Anzahl der jeweiligen Mitglieder in der Stufenhierarchie spiegeln sich alte Zahlensymboliken wieder.

Wenn einer der Mitglieder in einer der jeweiligen Hierarchiestufen verstirbt, so rückt ein anderer nach, somit wird die Gesamtzahl der wahren Gottesfreunde immer konstant gewahrt. Ältere Überlieferungen beschreiben die Aufgabe, die den autád zufällt. Ihnen ist aufgetragen, innerhalb ihres unmittelbaren Einflussbereiches und während ihrer direkten Anwesenheit Segen zu spenden und Unheil zu vertreiben.

Eine ähnliche Beschreibung findet sich, allerdings in detaillierter Form, auch bei Ibn Άrabi. Aus seiner Beschreibung leitet sich der Name des sogenannten ‚Dhikr der sieben Stellvertreter’ ab. „Es gibt sieben Stellvertreter. Ihre Anzahl bleibt immer gleich. Durch sie bewahrt Gott die sieben Ebenen. Jeder Stellvertreter verwaltet eine Ebene, in welcher er gleichzeitig Regent und Freund ist.

Diese Stellvertreter kennen alle Vorgänge und Geheimnisse, die Gott mit den sieben Planeten verbunden hat. Die Namen, mit denen die Stellvertreter bezeichnet werden, sind Namen von Qualitäten. Es sind dies:
‘Abd al-Hayy (Diener des Lebendigen), ‘Abd al-‘Alîm (Diener des Wissenden), ‘Abd al-Wadûd (Diener des Liebenden), und ‘Abd al-Qâdir (Diener des Machtvollen) … sowie ‘Abd al-Shakûr (Diener des Dankbaren), Abd al-Samî (Diener des alles Hörenden) und ‘Abd al-Başîr (Diener des alles Sehenden). Jede dieser göttlichen Qualitäten wird durch einen der Stellvertreter verkörpert. Mittels ihres Namens werden die Stellvertreter unverwandt von Gott beobachtet. Ihr Name bezeichnet die ihnen eigene, vorherrschende Qualität. Auf diese Weise steht jeder dieser Stellvertreter in Verbindung mit einem göttlichen Namen, welcher ihm seine spezifischen Qualitäten vermittelt. Jeder dieser Stellvertreter wird vom Ganzen umfasst und umfasst seinerseits, was ihm durch seinen göttlichen Namen gegeben ist. Hierdurch wird der Umfang seines Wissens bestimmt.“ Chittick, William C. “the Sufi Path of Knowledge” 1989 S. 370

Bevor ich näher auf den Dhikr eingehe, soll zum tieferen Verständnis der in diesem Dhikr verborgenen Symboliken eine kurze Darstellung zum kulturellen Hintergrund von Ibn Άrabi erfolgen.

Ibn Άrabi wuchs an einer der damaligen Schnittstellen der religiösen Kulturen im spanischen Murcia auf, das damals noch Teil des islamischen Reiches war. Bis zur christlichen Rückeroberung 1265 n.Chr. blühte hier ein weitgehend friedliches Nebeneinander der islamischen, jüdischen und christlichen Kultur, das zu einem enormen Wissensaustausch und gegenseitiger Befruchtung führte. Als Angehöriger der intellektuellen Oberschicht genoss Ibn Άrabi eine intensive Ausbildung und hatte somit Zugang zu diesem Wissen. Zum Bekanntenkreis der Familie gehörten einflussreiche Gelehrte wie Ibn Rushd (Averroes) und Abd al-Qādir al-Dschīlānī. Dieser Einfluss setzte sich auch noch dem Umzug nach Sevilla fort, als Ibn Άrabi etwa acht Jahre alt war. Sevilla war bis zu seiner Rückeroberung 1248 n.Chr., ebenso wie das übrige gesamte islamische Spanien bis auf wenige Perioden in der über siebenhundertjährigen islamischen Regierungszeit, ein Ort des interkulturellen Austausches und relativ tolerantem Zusammenlebens gewesen; so lebten zur Zeit Ibn Άrabis etwa 5000 Juden hier (ca. 5% der Stadtbevölkerung). Man kann davon ausgehen, dass Ibn Άrabi während seiner Ausbildungszeit ein umfassendes Wissen aus den drei abrahamitischen Religionen erworben hat, auch wenn der Schwerpunkt bei einer traditionell islamischen Erziehung lag.

Aus vielen seiner etwa 270 Werke kann geschlossen werden, dass er sich auch sehr intensiv mit Zahlensymbolik beschäftigt hat. Im Kontext zu dem hier vorgestellten Thema ist natürlich die Zahl ‚Sieben’ von vordergründigem Interesse.

Erkenntlich wird dies aus etlichen seiner Werke, besonders aber zu den Erklärungen zu einem Werk, das jedem Suchenden ans Herz gelegt werden sollte. Es ist dies das awrād al-usbū’ (wird) oder die ,sieben Tage des Herzens’. In diesem Werk zeigen sich die Verbindungen, die Ibn Άrabi zu den Bereichen Numerologie und Symbolik aufzubauen wusste. Allein dieser Text gibt Aufschluss darüber, welch ein profunder Kenner der Materie Ibn Άrabi gewesen sein muss. Daher ist es unwahrscheinlich, dass seine Darstellung des Dhikrs der ‚Sieben Stellvertreter’ ein Zufall oder Ergebnis einer spontane Laune gewesen ist. Immer wieder taucht zudem in den Werken Ibn Άrabis auffällig oft der Bezug zu der Zahl sieben auf.

Die Zahl Sieben galt in dieser Zeit als Zeichen der Ganzheit, Fülle und Vollkommenheit. Ihren Rang erhielt sie aus dem Ergebnis der Summe aus der Addition von ‚Drei’ und ‚Vier’. Ähnlich wie im Christentum galt die drei als Symbol für das Göttliche. In einer traditionellen islamischen Farbenlehre stehen drei Farben für diesen Aspekt. Weiß wird als Sonnenlicht, das alle Farben enthält, mit der Offenbarung des Göttlichen (zahir) verbunden. Schwarz steht für die Qualität des Göttlichen, die verborgen ist (batin). Die dritte Farbe ist Sandelholz, die Farbe der irdischen neutralen Basis, auf der die beiden anderen Farben wirksam werden. Diese drei Farben werden in Illustrationen oft als Dreieck verbunden und spiegeln dann Körper; Geist und Seele.

Die vier Farben Blau, Grün, Rot und Gelb sind Widerspiegelung der Zahl Vier. Jede dieser Farben ist einem Element zugeordnet. Blau entspricht in diesem System der Erde, Grün dem Wasser, Rot dem Feuer und Gelb der Luft.

Wenn beide Farbsysteme miteinander verbunden werden, entsteht nach diesem System der Kosmos als Gesamtheit. Jede Farbe wird traditionell einem der damals sichtbaren Planeten zugeordnet, diese wiederum je einem Propheten.

In dem Zusammenhang zwischen der Symbolik der Zahl Sieben und dem hier vorgestellten Dhikr darf eine Passage aus dem Qur’an nicht fehlen. Es handelt sich dabei um die einzige christliche Legende, die zwar im Qur’an, nicht aber in der Bibel oder den Apokryphen erwähnt wird. Es ist die Legende der Siebenschläfer (ashab al kahf ‚Gefährten der Höhle’), die sich in der achtzehnten Sure in den Versen neun bis sechsundzwanzig findet. Diese Legende wurde auch von Johann Wolfgang von Goethe poetisch bearbeitet und ist laut Erich Trunz „…Sinnbild für das Heilige mitten in der irdischen Welt und passt darum in das ‚Buch des Paradieses’, das die Beziehung beider Welten zum Gegenstand hat.“ ( Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S. 543.) Im herkömmlichen Sinne stellt diese Legende im islamischen Kontext ein Gleichnis für den tiefen Glauben an den Einen Gott und die Auferstehung dar. Grade dieser Aspekt kommt im Dhikr der sieben Stellvertreter zum Tragen, wie noch zu zeigen sein wird.

Die Zahl Sieben nimmt im Islam einen großen Stellenwert ein. Die sieben Himmelsebenen, die übrigens siebenmal im Qur’an erwähnt werden, finden besonders bei den Sufis Erwähnung, u.a. bei den weitverbreiteten Lehren von Simnani, und gehören zum oft verwendeten Meditationsgegenstand. Aber auch in Zusammenhang mit der Qur’aninterpretation taucht die Zahl Sieben immer wieder auf, meist in Zusammenhang mit verborgenem Wissen. Als Beweis für das Vorhandensein von verborgenem Wissen gilt zum Beispiel ein für die Schiiten fundamentales Hadith von Mohammed: „Der Koran hat eine äußere Erscheinung und eine verborgene Tiefe, einen exoterischen und einen esoterischen Sinn; dieser esoterische Sinn verbirgt seinerseits wieder einen esoterischen Sinn (diese Tiefe hat selbst eine Tiefe, entsprechend dem Bild der ineinander gefügten himmlischen Sphären; und so weiter bis zu sieben esoterischen Sinnstufen (sieben Tiefen der verborgenen Tiefe).“ Corbin, Henry, History of Islamic Philosophy, S.7

Von Ali ibn Ali Talib (gest. 40/661), dem Vetter und Schwiegersohn Muhammads, ist ein weiterführendes Zitat überliefert: „Es gibt keine Koransure, die nicht vier Bedeutungen hätte: die exoterische (zahir), die esoterische (batin), die Grenze (hadd), den göttlichen Entwurf (mottala’). Die exoterische ist für die mündliche Rezitation, die esoterische für das innere Verständnis, die Grenze enthält die Aussagen über Erlaubtes und Unerlaubtes und der göttliche Entwurf ist das, was Gott sich im Menschen durch jede einzelne Sure zu verwirklichen vornimmt.“ Ebd. S.6

Der Imam Ja’far as-Sadiq (gest. 148/765) ergänzte diese Aussage Ali Ibn Ali Talibs weiterführend mit eigenen Worten: „Das Buch Gottes umfasst vier Dinge: es gibt die ausdrückliche Aussage (‘ibarat), es gibt die anspielende Sinndimension (isharat), es gibt die okkulten, auf die übersinnliche Welt bezogenen Bedeutungen (lata’if), es gibt die hohen spirituellen Lehren (haqua’iq, Plural von haqiqat). Der wörtliche Ausdruck ist für die einfachen Gläubigen (‘awamm). Die anspielende Sinndimension richtet sich an die Elite (khawass). Die okkulten Bedeutungen sind für die Freunde Gottes (Awliya) bestimmt. Die hohen spirituellen Lehren gehören den Propheten (anbiya, Plural von nabi).“ (Ebd.)

Ja’far as-Sadiq erweitert diese vier Bedeutungen bzw. Sinnstufen noch einmal auf sieben Modalitäten des Hinabstiegs (d.h. der Offenbarung des Qu’rans) und neun mögliche Wege die Texte des Qu’rans zu lesen und zu verstehen.

Als vertiefendes Beispiel wird gerne eine Geschichte über Άbd Allah Ibn Άbbas, einem der berühmtesten Gefährten Muhammads erzählt. Der Bezug zu diesem überlieferten Bericht ist der zwölfte Vers der 65. Sure des Qur’ans „Allah ist es, Der sieben Himmel erschaffen hat, und von der Erde gleich (viel). Die Anordnung (Allahs) kommt wahrhaftig zwischen ihnen herab, damit ihr wisst, dass Allah zu allem die Macht hat und dass Allah ja alles mit Seinem Wissen umfasst.“
Άbd Allah Ibn Άbbas schrie eines Tages lauthals inmitten einer am Berg Arafat versammelten Menschenmenge heraus: „Oh ihr Menschen! Wenn ich diesen Vers in eurer Gegenwart so auslegen würde, wie es der Prophet mir gegenüber tat, würdet ihr mich steinigen.“

Ein wesentlicher Bestandteil der „sufischen“ Lehre ist der Begriff der mystischen Reise. Verschiedene AutorInnen und LehrerInnen haben im Verlauf der Geschichte diesen Begriff als ein wesentliches Merkmal der „Reisenden auf dem Pfad“ verwendet. Wie eindrucksvoll in der Fabel der „Konferenz der Vögel“ des Farid-uddin Attar beschrieben, hat sich der Suchende (murid) eben auf die Suche zu begeben. Die Reise ist der Prozess selbst, den die z.B die Alchemisten als Prozess der Umwandlung beschreiben. Ähnliche Beschreibungen finden sich ebenso in anderen spirituellen Schulen. Die Umwandlung von Blei zu Gold ist dabei eine Metapher für die eigentlichen Vorgänge im Bereich der Seele. Dieser Prozess ist Bestandteil der meisten spirituellen Schulen seit Beginn der Zeit.

Wir werden völlig in Gott transformiert und verwandelt. [Anspielung auf 2 Kor 3,18: »Wir werden in dasselbe Bild gewandelt.«] Vernimm ein Gleichnis! Ganz so, wie wenn im Sakramente Brot in unseres Herrn Leib verwandelt wird: wieviel der Brote es auch wären, so wird doch nur ein Leib … Was in ein anderes verwandelt wird, das wird eins mit ihm. Ganz so werde ich in ihn verwandelt, daß er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, daß es da keinerlei Unterschied gibt … Das Feuer verwandelt in sich, was ihm zugeführt wird, und dies wird zu seiner Natur. Nicht das Holz verwandelt das Feuer in sich, vielmehr verwandelt das Feuer das Holz in sich. So auch werden wir in Gott verwandelt, so daß wir ihn erkennen werden, wie er ist (1 Joh 3, 2). Sankt Paulus sagt: So werden wir erkennen: recht ich ihn, wie er mich, nicht weniger und nicht mehr, schlechthin gleich (1 Kor 13,12). »Die Gerechten werden ewiglich leben, und ihr Lohn ist bei Gott« – ganz so gleich. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Hrgs Josef Quint, S. 185-187

Bei diesem dhikr und seinem angestrebten Ziel geht es weniger um die gebetsmühlenhafte Wiederholung einer Übung, die durch eine Wiederholung zum Erfolg führen soll. Vielmehr ist der Aufbau einer Beziehung zum Übersinnlichen jenseits der Alltäglichkeit das Ziel. Fast nebenbei, aber doch eigentlich zentral, soll eine andere Art der Beziehung entwickelt werden.

„Der Verlauf dieses Reisewegs wird durch die Beziehung des Menschen zur Göttlichen Präsenz auf Grund der dem Menschen innewohnenden ‚ayn ath-thâbitah (unveränderliches Wesen) bestimmt.“ Taj-iddin Hossein ibni-Hassan al-Khârazmî, Sharhi Fusûs al Hikam, ed. Najib Mayil Harawî (Maula Publishers, Teheran, 1996, S. 30

Die ‚ayn ath-thâbitah' sind die materielle Form der Göttlichen Namen. Diese Göttlichen Namen oder Attribute sind im Herzen jedes Menschen eingraviert und bilden spiegelbildlich das Fundament der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Göttlichen. Da die Göttlichen Namen mit shauq (Verlangen) getränkt sind, sehnen sie sich nach ihrer Manifestation in der Materie.

Und aus dieser speziellen Konstellation geschieht das eigentlich Wunder. Eingedenk der durch ein hadith abgesicherten „Forderung“ des Sterbens vor dem Sterben vollzieht sich ein Akt der Auferstehung ins Leben. Die aktive Anrufung der göttlichen Qualitäten verhilft diesen zur Auferstehung ins Leben. Dies ist einer der Ziele eines dhikrs – durch die ‚Anrufung’ der Göttlichen Attribute das Erwachen in die materielle Wirklichkeit. Wo anders als im Körper des Anrufenden sollte dies geschehen?
Dieser Prozess läuft ins Leere, wenn er sich nur auf diesen Vorgang beschränkt. Zurück bliebe eine Erleuchtung um der Erleuchtung willen. Nach sufischer Lehre ist eine Rückkehr ins Leben die zwingende Folge, ähnlich der buddhistischen Vorstellung eines Boddhisatvas.

„… der Wanderer (sâlik) ist davon nur betroffen, wenn er vom Göttlichen ins Menschliche zurückkehrt.“ Taj-iddin Hossein ibni-Hassan al-Khârazmî, Sharhi Fusûs al Hikam, ed. Najib Mayil Harawî (Maula Publishers, Teheran, 1996

Bei diesem Vorgang ist die Gefahr der autosuggestiven Sichtweise nicht zu unterschätzen. Einen Ratschlag, wie die Klippe oder Falle zu umschiffen ist, gibt uns Ibn ‚Arabi in einem seiner Texte.
„Versenke dich in den Dhikr, bis die Welt der Vorstellungen verschwindet und die abstrakten Gedanken auftauchen. Schließlich wird der, den du angerufen hast, sich über die Zeichen hinaus enthüllen. Dann verstehst du, dass du Gott durch Gott kennenlernst, nicht durch dich selbst.“ Ibn ‚Arabi Pir Vilayat Inayat Khan, Keeping in touch (Kit) Nr. 90

Und mit dieser Aussage wird gleichzeitig das Ziel benannt, dass auch Hazrat Inayat Khan in seinen Schriften definierte. Auf die Frage, worin genau seine Botschaft bestünde, antwortete Hazrat Inayat Khan: „Im Erwachen der Menschheit zur Göttlichkeit des Menschen.“ Kit Nr. 94

Das Ewige findet sich im Werdenden. Es ist eine Virtualität, die sich in jedem Teil des Ganzen – nichts anderes sind wir selbst und sind die anderen – realisiert. „Wenn ein Mensch zum Geist der Einheit erwacht und in allem die Einheit sieht, verändert sich seine Sichtweise und mit ihr seine Haltung. Nichts und niemand ist mehr von ihm getrennt.“ Pir-o-Murshid Inayat Khan
Es ist allerdings nicht damit getan, an das metaphysische Konzept „Alles ist eins“ einfach nur zu glauben. Die Erfahrung schlüpft durch die Maschen des Wissens, das versucht, sie festzuhalten. Und umgekehrt: Wird Wissen uns zu Erfahrung anregen? Dazu, das, was wir wissen, auch zu erfahren? Kit Nr. 103

„Wenn die Seele sich einmal als unabhängig vom Körper erkennt, beginnt sie natürlicherweise in sich selbst das Wesen des Geistes zu sehen. Der Sufi praktiziert den Prozess, der ihn in die Lage versetzt, jenen Teil des Lebens in seinem Innern zu berühren, der dem Tod nicht unterworfen ist. … sich erhebend über seinen irdischen Zustand.“ Pir-o-Murshid Inayat Khan Kit Nr. 105

Nach dem Erreichen dieser Erkenntnis kann es nur den Weg geben, dass man sich selbst durch die Stadien der Erkenntnis bewegt, wie es auch Farid-du-din Attar in seien „Vogelgesprächen“ schildert. Auch wenn die Erkenntnises weh tun mag. Erleuchtung von null auf hundert gibt es selten. Meist ist wie beim Autofahren ein „Hochschalten“ durch die Gänge nötig. Der hier vorgestellte Dhikr bietet ein einzigartiges Lernmodell, wie man das „Getriebe“ schaltet

„Vollkommene Verwirklichung kann nur dadurch erreicht werden, dass man durch alle Stadien geht, vom Menschen als Manifestation Gottes bis hin zu Gott als dem einzigen Wesen, sich selbst vom niedrigsten bis zum höchsten Punkt der Existenz kennenlernend und verwirklichend und so die himmlische Reise vollendend.“ Pir-o-Murshid Inayat Khan

Man braucht nicht in einen Zustand der Verzweiflung oder Mutlosigkeit zu verfallen. Die dazu nötigen Voraussetzungen bringen wir mit. Ibn ‚Arabi schrieb:
„Gott stattet sie aus mit dem, was ihnen in jeder Welt entspricht, indem er mit ihnen durch jede Welt geht… Der Geist im Menschen ist ein subtiles himmlisches Organ, „himma“ genannt. Wird er verschwenderisch über ihn ausgegossen, so ist er mit dem Himmel wiedervereint.“

Zur Vorbereitung auf den „Dhikr der sieben Stellvertreter“ und der daraus zwangsläufig erfolgenden Transformation, wenn der Dhikr ernsthaft betrieben wird, sollte nach meiner Erfahrung eine Übung praktiziert werden, die im Sinne von Hazrat Inayat Khan geeignet ist, den sich auftuenden Spalt zu überbrücken.

Die Übung, die Pir-o-Murshid empfahl, bestand darin, den Bruch zu überbrücken, der zwischen der physischen Ebene, derer man sich im Allgemeinen bewusst ist, und den himmlischen Ebenen besteht, indem man zunächst zwischen beiden hin- und hergeht und sie schließlich verbindet beziehungsweise vereinbar. Kit Nr. 113

Für mich war es in diesem Zusammenhang sehr hilfreich, eine Übung zu verwenden, die mir auch von dem geschätzten Lehrer Malik Foerg ans Herz gelegt worden ist. Es handelt sich um die Übung Shagall, die von Pir Vilayat Inayat Khan auch im Rahmen seiner teachings verbreitet wurde.

Last but not least besteht noch eine weitere Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung dieses dhikrs. Nämlich die persönliche Bereitschaft auch wirklich eine Veränderung durchführen zu wollen. „Ich behaupte: eine qualitative Veränderung im Bereich der psychischen Immanenz, d.h. eine Veränderung, die den Namen auch verdient; bedarf notwendig der tiefgreifenden transzendenten Erfahrung (z.B. vom Saulus zum Paulus) …. „Bismillah, stirb bevor Du stirbst“, spricht der Prophet. Es kommt der Tag wo unsere Persönlichkeit wie unser Körper auseinanderfällt. Wohl dem, der dann mit seinem immanenten Wirken auf der Erde zufrieden ist. Wohl dem, der dann bereits einmal gestorben ist und keine Angst hat vorm Zerfall des Vergänglichen, dem, der bereits in der eigenen alchemistischen Suppe kochte und verdampfte.“ Assad Peter Splieth in „Persönlichkeit“, Textbeitrag für die Leiterliste des SOD 2002

Gelegentlich mag eine Verunsicherung auftreten über das Wie der angesprochenen Transformation, wenn man sich über das Ob im Klaren ist. Ist man sich über das Ob im Klaren, stellt das Wie einen unüberwindlichen Berg dar. Doch diese Schwierigkeit ist meist eine Illusion, gibt es doch Wanderkarten für den Weg.

In einem seiner Rundbriefe „Keeping in Touch“ Kit Nr. 150 beschrieb Pir Vilayat Inayat Khan einige notwendige Voraussetzungen für die Transformation. Um sich einer Transformation zu unterziehen, sind demzufolge drei Schritte notwendig:
1. sich von seinem Selbstbild befreien,
2. die Struktur der Eigenarten seiner Persönlichkeit auseinandernehmen,
3. eine völlig neue Konfiguration seiner Qualitäten konstruieren unter Verwendung seiner transpersonalen Hilfsquellen

Eins der „Probleme“ in unserem Kulturkreis ist, wenn wir uns mit Sufismus beschäftigen, dass uns das alltägliche Wissen um die Bedeutung von Worten aus einem andern Kulturkreis fehlt. Als „Sufis“ arbeiten wir mit arabischen Worten, die Muttersprachler möglicherweise anders verstehen, als wir. Gerade und besonders in Neo-Sufi Kreisen wie dem Sufiorden, ist es nicht immer üblich, solide Grundlagen zu erarbeiten oder zu verwenden. Es gibt eine Tendenz, Wunschvorstellungen und unsolide Interpretationen über die „Fakten“ zu stellen. Daher soll hier eine kurze Darstellung der verwendeten asma al husna im „Dhikr der sieben Stellvertreter“ erfolgen.

Als eine wichtige Quelle möchte ich das Buch „Gott hat die schönsten Namen…“ von Hamid Molla-Djafari nennen. Es wurden aber darüber hinaus auch etliche andere Quellen verwendet. Die Bezüge aus dem Qur’an zu den einzelnen ‚Gottesnamen’ habe ich so ausgewählt, dass in den Sätzen auch eine Art Aufgabenbeschreibung der jeweiligen Stufe der Transformation enthalten ist. Diese Aufgabenstellung ist nur schwer verbal zu vermitteln, gemäß der beiden alten Sprichworte der Sufis „Man kann einen Kuss nicht durch einen Boten senden.“ und „wer wissen will, muss schmecken.“ Wer den Prozess durchlaufen hat, wird wahrscheinlich beim Lesen mit einem Schmunzeln wissen und sich geküsst fühlen. Eine Beschreibung mit Worten bliebe bestenfalls zweidimensional und würde dem Dhikr bei weitem nicht gerecht. Bei der Übersetzung des Qur’ans habe ich das Buch „Die Botschaft des Koran“ von Muhammad Asad herangezogen.

لحيا al-Ḥayy
“der Lebendige, der immer und überall ist. Je nach Bedeutung des einzelnen Verbalstammes auch Leben verleihen; ins Leben rufen; wiederbeleben. Der aus sich selbst Lebende; Derjenige der leben und sterben lässt.

Einer der Verbindungen ist der zweite Vers der dritten Sure des Qur’ans, die übersetzt in etwa lautet: „Gott – es gibt keine Gottheit außer Ihm, dem ImmerLebendigen, dem durch Sich-Selbst-Bestehenden-Quell allen Seins.“

العليم al-ʿAlīm
der Allwissende; der, der alles vollkommen weiß; der, dem Weisheit absolut zugehört.

Einer der Bezüge zum Qur’an ist der sechste Vers der 32. Sure: „Das ist Er, der alles weiß, was jenseits der Reichweite der Wahrnehmung eines erschaffenen Wesens ist, wie auch alles, was von den Sinnen oder dem Geist eines Geschöpfes wahrgenommen werden kann; der Allmächtige, der Gnadenspender.“

الودود al-Wadūd
der Liebende; der Freundliche; der voller Liebe ist; der Liebreiche.

Ein möglicher Bezug ist der 14. Vers der 85. Sure: „Und Er allein ist wahrhaft vergebend, allumfassend in Seiner Liebe.“

القادر al-Qādir
der Mächtige; der Fähige; der imstande ist; der, der einer Sache gewachsen ist. Ein möglicher Bezug ist der 33. Vers der 46. Sure: „Sind denn sie (die das kommende Leben leugnen) nicht gewahr, dass Gott, der die Himmel und die Erde erschaffen hat und niemals durch eine Erschaffung müde ist, (auch) die Macht hat, die Toten zum Leben zurückzubringen? Ja, wahrlich, Er hat die Macht, alles zu wollen!“

“الشكور aš-Šakūr
der Dankbare; der die guten Taten würdigt; der Dankbarkeit gewährt; der Vergelter des Guten.
Der mögliche Bezug ist hier der 145. Vers der dritten Sure: „Und kein Mensch kann sterben außer mit Gottes Erlaubnis, zu einer vorbestimmten Frist. Und wenn einer die Belohnungen dieser Welt wünscht, werden Wir ihm davon gewähren, und wenn einer die Belohnungen des kommenden Lebens wünscht, werden Wir ihm davon gewähren und Wir werden jenen vergelten, die (Uns) dankbar sind.“

السميع as-Samīʿ
der Hörende; der Erhörende; der Alles-Hörende; derjenige, der alles hört.
Der mögliche Bezug ist hier der 256. Vers der zweiten Sure: „Es soll keinen Zwang geben in Sachen des Glaubens. Deutlich unterschieden geworden ist nun der rechte Weg von (dem Weg des) Irrtums, wer darum die Mächte des Übels verwirft und an Gott glaubt, hat fürwahr eine höchst unfehlbare Stütze ergriffen, die niemals nachgibt, denn Gott ist allhörend, allwissend.“

البصير al-Baṣīr
der Sehende; der einen tiefen Einblick hat; der Bescheid weiß. In weiteren Wortstämmen ergibt sich die Bedeutung – verstehen machen; Einsicht; Einsicht haben oder gewinnen; die Fähigkeit haben zu sehen oder einzusehen.

Der 15. Vers der dritten Sure könnte hier ein Bezug sein: „Sag: ‚soll ich euch von besseren Dingen als jenen (irdischen Freuden) erzählen! Für die Gottesbewussten gibt es bei ihrem Erhalter Gärten, durch die Wasserläufe fließen, darin zu verweilen und reine Ehepartner und Gottes gefällige Annahme.’ Und Gott sieht alles, was in (den Herzen von) Seinen Dienern ist.“

Pir Vilayat Inayat Khan stellte als Zuordnung, die mir, wie gesagt, als Mitschrift aus früheren Jahren vorliegt, die sieben Schritte mit folgendem Kommentar als Schlagworte dar:

Das Leben

Das Wissen

Der Willen

oder die Liebe

Die Macht

Die Dankbarkeit

Die Bejahung

Die Einsicht

Diese Schlagworte können als hilfreiche Ergänzung für die Praktik des ‚Dhikrs der sieben Stellvertreter’ angesehen werden.

Wie anfangs erwähnt, ergaben sich bei der Durchführung des Dhikrs etliche Probleme. Immer wieder vergaß ich die Reihenfolge der Namen und „hing“ bei der Durchführung dabei. Bei der erstmaligen Durchführung des Dhikrs im Mausoleum von Muhiy-ud-din Ibn Άrabi in Damaskus trat dieses Phänomen besonders stark auf. Hatte ich mich bisher Zuhause wie üblich verbissen durch diese vazifa gekämpft, schien es mir hier unmöglich, den Dhikr durchzuführen. Obendrein wurden die „Nebengeräusche“ im Mausoleum anscheinend so stark, dass ich schließlich entnervt abbrach. Diese Schwierigkeiten setzten sich nach meiner Heimkehr fort und verwirrten mich vollkommen. Es war zwar im Grunde seit dem Kennenlernen des Dhikrs der sieben Stellvertreter eine „harte“ Arbeit gewesen, den Dhikr zu praktizieren, aber nun schien es vollkommen unmöglich. Zunächst suchte ich den „Fehler“ bei mir. Möglicherweise war „ich“ das Problem. Entsprechende Empfindungen kennt wohl jeder, der den Weg geht. Meine Hilfesuche verpuffte jedoch, denn auch meine damalige spirituelle Mentorin sah sich außerstande, mir zu helfen.

Durch einen Zu-Fall gelangte der Originaltext von Muhiy-ud-din Ibn Άrabi und die Übersetzung von William Chittick in meine Hände. Zu meiner großen Verwunderung waren in diesem Text die entsprechenden „Gottesnamen“ in einer vollkommen anderen Reihenfolge aufgeführt, als Munir Voß sie bei seiner Meditationsanleitung vorgestellt hatte.
Bereits der erste Versuch in der „richtigen“ Reihenfolge verblüffte mich. Plötzlich schob sich in der Meditation scheinbar von selbst alles an seinen Platz. Besonders eindrucksvoll war meine Durchführung des Dhikrs bald darauf bei einem meiner häufigen Besuche im Mausoleum von Muhiy-ud-din Ibn Άrabi in Damaskus, wo ich oft zu meditieren pflegte. Alles schien plötzlich aus einem Guss und „leicht“.
Anfangs glaubte ich noch an ein ego-gesteuertes Phänomen. Die „Probleme“ scheinen aber reprodizierbar. Meine Befragungen anderer „Meditanten“, die sich ebenfalls an der von Munir Voß vorgestellten Version versucht hatten, erbrachte ähnliche Ergebnisse. Sie bestätigten meine Erfahrungen nach der Umstellung der Reihenfolge, ohne dass ich sie vorher darüber informiert hatte.

Zusätzlich wurde mir vor kurzer Zeit die Mitschrift einer Meditationsanleitung von Pir Vilayat Khan aus der Mitte der 1960er Jahre zur Verfügung gestellt. Pir Vilayat Khan bezieht sich darin auf den Dhikr der sieben Stellvertreter von Muhiy-ud-din Ibn Άrabi. Es hat mich letztlich nicht verwundert, dass Pir Vilayat Khan die „richtige“ Abfolge der asma al husna in dieser Vazifa verwendet.

Vieles oder beinahe Alles deutet also darauf hin, dass Muhiy-ud-din Ibn Άrabi nicht ohne Grund genau diese Reihenfolge der asma al husna „gewählt“ hat, als er seine Ausführungen niederschrieb. Wer sich ernsthaft mit Muhiy-ud-din Ibn Άrabi und seinem Werken beschäftigt hat, wird darüber nicht verwundert sein. „Man“ wird auch nicht verwundert sein, dass die Lampe nicht die Sonne ist. Folgen wir also dem Licht und nicht der Lampe.

Der „Zweck“ einer solchen Übung ist nicht Zeitvertreib, sondern die ernsthafte Arbeit der Transformation der „eigenen“ Persönlichkeit.

Eine mystische Reise der Transzendenz, wie hier zum Beispiel in dem „Dhikr der sieben Stellvertreter“ beschrieben, ist einer der klassischen Bestandteile des Sufiweges. Doch wie ein altes Sprichwort sagt: „Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“ Der erste Schritt besteht oft darin, dass man damit beginnt, über das Dasein und die Schöpfung zu staunen. Als Reaktion darauf spürt man in sich eine Art Erweckung, als ob man aus einem tiefen Traum erwacht. In diesem Moment fühlt man in sich das starke Bedürfnis, den Weg der Transzendenz weiter zu beschreiten. Doch dieser Ruf ist lediglich ein erster Schritt. Der Suchende macht erst dann Fortschritte, wenn sich in ihm die Einsicht verstärkt, dass er ohne Wissen um sein eigenes wahres Selbst auch keine wirkliche Erkenntnis über das Göttliche erlangen kann. Oder wie es in einem Spruch ausgedrückt wird, der Άlî ibn Abî Tâlib zugesprochen wird: „Man ‚arafa nafsahu faqad ‚arafa Rabbahu. Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.“

An diesem Punkt beginnt der Wanderer damit, nach einem Lehrer zu suchen, oder wird – wie es die alten Texte beschreiben – von diesem ‚gerufen’. Traditionell ist die Hilfe eines Lehrers notwenig, um bei der strukturierenden Neuordnung der eigenen bereits vorhandenen inneren Fähigkeiten zu helfen und bei der Ausstattung mit den nötigen Fertigkeiten für die weitere Reise Erfolge zu erzielen. Es ist auch heute immer noch sinnvoll, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, denn wie sagte der Sufimeister Jalal-ud-din Rumi: „Wer ohne einen Führer reist, wird 200 Jahre brauchen für eine sonst zweitägige Reise.“ Durch diesen Schritt auf den Lehrer hin wird begünstigt, dass die Liebe wächst, denn ohne das Aufblühen von Liebe ist der persönliche Fortschritt auf dem Weg von vornherein begrenzt und der Wanderer wird nicht genügend Ausdauer für die Durchführung der Reise besitzen. Je weiter man voranschreitet, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Göttlichen. Im Gegenzug dazu lässt dies die Liebe noch mehr wachsen.

Eines der vielen Vermächtnisse Ibn Arabis an uns ist seine detaillierte Beschreibung der Inneren Reise in Form einer Art Landkarte. Sein „Reiseführer“ in Form des „Dhikr der sieben Stellvertreter“ gibt Aufschluss über die Zeichen (âyat) und Wegpunkte, die uns von einer Etappe zur nächsten leiten und Aufschluss über die jeweilige Position in der persönlichen Entwicklung geben kann. Es ist mir ein dringendes Bedürfnis, Ibn Arabis Hinweis zu betonen, dass zu einer mystischen Reise der Dhikr als ständiger Begleiter im Leben notwendig ist. Ohne eine regelmäßige und andauernde Praxis wird es schwierig, die Göttlichen Namen ins Bewusstsein eindringen zu lassen und sie letztendlich zu verinnerlichen, damit sie in ihrer materiellen Form erscheinen können. Durch das kontinuierliches Praktizieren einer Übung wie des Dhikrs unter der direkten Anleitung eines Lehrers ist es möglich, den hier beschriebenen inneren Aufstieg zu bewerkstelligen. Die Übung entfaltet nur so ihre volle Wirksamkeit; die Worte allein genügen nicht, um das Ziel zu erreichen. Eine weitere Auswirkung des Dhikrs ist die Vertiefung der Erfahrungen der Göttlichen Liebe, was für das Fortschreiten auf dem Weg unerlässlich ist. Ohne diese Erfahrung der Göttlichen Liebe irrt der Wanderer im Labyrinth der vagen Möglichkeiten orientierungslos umher. Durch diese Liebe wird der Wanderer dagegen mit dem Empfinden von Sicherheit, Nähe und Gewissheit beschenkt.

Qalbi Qadir Abd ar Rahman Jonitz, Loosdorf, 19. Rajab 1435 / 19. Mai 2014

Veröffentlicht unter:

  • Dhikr
  • Fachliches

Zur Blog-Übersicht