Einheit in der Vielheit

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„Es gibt nicht Ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes in der Welt, kein Chaos, keine Verwirrung, außer einer Scheinbaren, ungefähr wie sie in einem Teiche zu herrschen schiene, wenn man aus einiger Entfernung eine verworrene Bewegung und sozusagen ein Gewimmel von Fischen sähe, ohne die Fische selbst zu unterscheiden“ – Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie § 69

Der Sufismus / tasawwuf beinhaltet in sich selbst den Begriff und die Auffassung der Universalen Einheit. Diese Einheit wird in einem der ‚Gottesnamen‘ als al-wāḥid / الواحد (Der Eine) bezeichnet. Als Einheit gilt der/die/das Eine, dass sich aus Seiner Gesamtheit zusammen setzt, so wie die Teile eines Puzzles in ihrer Gesamtheit das Bild ergeben. Der Qur’an, auf dem die Lehren des Sufismus / tasawwuf, wie wir in seiner Ausprägung seit dem siebten Jahrhundert westlicher Zeitrechnung kennen, beruhen und darin tief verwurzelt sind, gibt es dazu die Aussage, dass wir die Einheit nicht als ein undifferenziertes Etwas betrachten sollen. Dies würde im Grunde der Göttlichen Schöpfung widersprechen, denn: „3. ER hat den Menschen erschaffen. 4. ER hat ihn artikuliertes Denken und Reden gelehrt. (4. allamahu l-bayân)“ (Qur’an 55: 3/4). Im Qur’an wird hierfür der Ausdruck bayân verwendet. Dieser Begriff schliesst das geistige Vermögen ein, eine Sache oder auch eine Idee deutlich zu machen oder begrifflich unterscheiden zu können. Dies wird in ähnlicher Weise auch in der zweiten Sure, Vers 31 des Qur’ans betont. Die dortige Aussage: „und ER lehrte Adam die Namen aller Dinge…“ ist nicht absolut wörtlich zu nehmen, sondern schlußfolgernd als Fähigkeit zu logischer Begriffsbestimmung und begrifflichem Denken zu betrachten.

In der selben Richtung fordert das obige Zitat von Leibniz ebenfalls dazu auf, dass es manchmal zur Erreichung einer klaren Erkenntnis notwendig sein kann zu differenzieren. Damit ist nicht jene Art von Nachdenken gemeint, die im Amerikanischen so treffend als ‚mind-fucking’ bezeichnet wird. Als Deutsche Übersetzung würde sich ‚geistige Onanie’ als vielleicht noch treffender anbieten. Hier ist eine andere Art des Hinterfragens gemeint.

Dazu bietet sich einer ‚Namen Gottes‘ – asma al husna – als Übung/vazifa von seiner Grundqualität her an. Al – mubīn, wird meist als – der Klare, der Deutliche, der Aufklärer, der Verdeutlicher – übersetzt. Auch – der Offenkundige oder der Evidente – sind mögliche Bedeutungen in einer Übersetzung. Interessanterweise gibt es im Arabischen einen gemeinsamen Wortstamm mit bayân, was auf eine enge Verbindung beider Worte schließen lässt. Diese Verbindung zeigt sich im Ziel. Das Ziel lautet: die Erschaffung der Einheit in der Vielfalt. Dazu benötigt man die Erkenntnis, dass Fische die Bewegung im Teich ausmachen.

Ähnlich verhält es sich mit der immer wiederkehrenden Frage, die immer wieder durch einschlägige Foren geistert oder auf einschlägigen Veranstaltungen diskutiert wird. Oder in den einschlägigen Gruppen diskutiert wird. Und sie ist letztlich eine essentielle Frage. Sind Sufis ohne Islam Sufis?

Vielfältige Aussagen von bekannten und berühmten Lehrern/Meistern aus dem Bereich Sufismus/tasawwuf tragen nicht gerade erhellend zur Klarheit oder Verdeutlichung bei. Es bleibt zu hinterfragend Bestandteil historischer Forschung, ob Meister wie Hazrat Inayat Khan entsprechende Aussagen wirklich getroffen haben, oder wohlwollende Mitglieder/Leiter der entsprechenden Orden ergänzende Abschnitte in die jeweiligen Publikationen hinzugefügt haben. Es gibt immer wieder Hinweise, dass es zumindest im Bereich der Übersetzungen faktische Probleme zutage treten. Die nicht hinterfragten Aussagen werden zumeist von Personen aus den Neo-Sufischen Orden vertreten und quasi bis aufs Blut verteidigt. Dabei tritt zum Beispiel immer wieder hervor: Den Sufismus habe es schon immer gegeben. Es habe ihn schon vor dem Islam gegeben. Der Sufismus sei nicht islamisch, sondern irgendetwas Hyper- oder Metareligiöses, lauten die gängigsten Argumente.

Greifbare Fakten im Sinne von bayân werden allerdings selten eingebracht, meist beschränkt sich die Auseinandersetzung auf eine Art emotionale Ebene, die sich durch persönliche Befindlichkeiten anstelle von Fakten im Sinne von bayân oft in eine Richtung entwickelt, die befremdlich wirken kann. An diesen Stellen unterscheiden sich die Gespräche leider oft kaum von Gesprächen mit islamisch-orthodoxen Hardlinern, die dem Sufismus/tasawwuf genau das vorwerfen, was die Neo-Sufis den traditionellen Sufis vorwerfen. Beide Seiten sind sich darin einig, dass traditionelle Sufis die wahre und reine Lehre verraten und Unrecht haben. Womit sich einer weitere interessante Verbindung öffnet. Dem allgemeinen Wortstamm von al – mubīn entspringt ein weiterer Begriff. مركز – die Mitte, der örtliche/zeitliche Zwischenraum. Man befindet sich mit der Durchführung der Übung/vazifa von al – mubīn also in der Mitte, der Balance zwischen der normativen Kraft des Faktischen und dem Fortgetragenwerden durch die eigene Fantasie inklusive der Zurechtbiegung von Fakten im egohaften Wunschdenken.

Eine kurze Analogie zum Thema Sufismus/tasawwuf soll zu einer möglichen Lösung dieses Dilemmas beitragen. Steinobst ist eine Pflanzenart. Die gibt es schon sehr lange. Und Pflanzen wahrscheinlich noch länger als diese Art. In der Evolution haben sich allerdings verschiedene Arten entwickelt. Die Ausprägungen sind sehr unterschiedlich. Und doch kann man mit Bestimmtheit sagen, dass eine Kirsche keine Pflaume ist. Genauso verhält es sich mit spirituellen ‚Schulen‘. Eine Kirsche ist keine Pflaume. Steinobst ist nicht der Name der Pflaume. Was an der Schmackhaftigkeit nichts ändert

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