Seit Längerem wird über die ‚wahre‘ Bedeutung des Wortes ‚Sufi‘ diskutiert. Nur über eins kann man sich wohl ohne Zweifel im Klaren sein. Das Wort ‚Sufismus‘ ist eine Schöpfung des beginnenden Orientalismus des 19. Jahrhunderts und kann nicht auf alte Quellen zurückverfolgt werden. Die Sufis verwendeten/verwenden den Begriff tasawwuf, um die ‚Lehre‘ und den Weg der Sufis zu bezeichnen.
Wer oder was nun ein Sufi ist, und worin dessen Kennzeichen bestehe, wird oft mit dem alten Aphorismus beantwortet: „Frage 100 Sufis, was ein Sufi ist und du wirst 101 Antworten erhalten.“
Hier folgt nun eine dieser Antworten. Alle 100 Sufis sind sich wohl darüber einig, dass die Bezeichnung ‚Sufi’ keinen etymologischen Bezug zum griechischen Wort sophia (Weisheit) besitzt. Die Ansicht, dass sophia der Bezug sei, wird ausschließlich von Vertretern Neo-Sufischer Organisationen vertreten, die damit eine Legitimation für ihre Sichtweise des tasawwuf herstellen möchten, dass der ‚Sufismus’ vollkommen losgelöst vom Islam existiere und nichts mit jenem gemein habe.
Neben verschiedenen weiteren möglichen Ableitungen wird heute überwiegend davon ausgegangen, dass sich das Wort ‚Sufi‘ von dem arabischen Wort ṣūf صُوف – „Schurwolle“ ableitet. Meist wird in diesem Zusammenhang auf das Gewand aus Schurwolle hingewiesen, das die ‚Sufis‘ anscheinend seit Beginn ihres Auftauchens trugen. Irritierend und gleichzeitig erhellend ist die Tatsache, dass in Quellen aus dem elften Jahrhundert, wie zum Beispiel, den Schriften von Hujwiri erklärt wird, dass es keine etymologische Erklärung für das Wort ‚Sufi‘ gibt.
Dieser Hinweis führt eventuell auf eine ganz andere Fährte. Es ist durchaus möglich, dass es sich nicht nur um einen Begriff handelt, der eine Person allein aufgrund des Äußeren bezeichnet. Das Tragen von einem Gewand aus Wolle ist möglicherweise nicht der zentrale Grund einen Sufi als Sufi zu bezeichnen. Sufis arbeiten ja bekanntlich intensiv mit den asma al husna und das Tragen eines Gewandes aus Wolle wäre eine Analogie zu aẓ-Ẓāhir. Doch wie Hujwiri anmerkte, kann das allein nicht die Erklärung sein, warum ein Sufi ein Sufi ist. Es muss noch eine andere Dimension geben. Und die liegt möglicherweise jenseits des äußeren Erscheinungsbildes und somit als Analogie im Inneren, dem al-Bāṭin.
Wenn es also keine etymologische Erklärung gibt, könnte ein anderer Grund für die Bezeichnung vorliegen. Wenn das Äußere nicht gemeint ist, wie der Hinweis von Hujwiri nahelegt, liegt wahrscheinlich eine andere Erklärung zugrunde. In der Zeit der Entstehung des tasawwuf vor mehr als 1300 Jahren dürfte die Bezeichnung einer Praktik auch die Analogien des Alltags beinhaltet haben. So wie wir heute zum Beispiel Vorgänge mit Begriffen aus der EDV bezeichnen und benennen, bezeichneten und benannten Menschen vor 1300 Jahren Begriffe und Praktiken ebenso aus ihrem Alltag. Ähnlich wie wir heute z.B. unter dem Begriff ‚EDV’ einen komplexes Zusammenspiel von Mensch, Hardware und Software bezeichnen, dürfte vor 1300 Jahren der Begriff ‚Wolle’ ein komplexes Zusammenspiel von Mensch, Transformation und Erscheinungsbild in dem Begriff Wolle bezeichnet haben. Die Schritte der Verarbeitung von Wolle waren Menschen dieser Zeit ebenso präsent, wie uns heutzutage Vorgänge aus der Datenverarbeitung und deren Prozesse.
In der Analogie bedeutet dies: Das symbolische Tragen von Wolle war also nur ein Ergebnis eines Prozesses, den der Träger durchlaufen haben musste, damit er ‚berechtigt‘ war, die Wolle zu tragen. Und dieser Prozess besitzt verblüffende Ähnlichkeit zu dem Prozess der Wollherstellung. Der Träger symbolisiert also durch das Tragen der Wolle im Außen, dass er den Prozess der Herstellung seines Gewandes analog auch in seinem Inneren durchlaufen hat. Das Äußere ist der Beleg für das Innere.
Betrachtet man den Prozess der Herstellung eines Gewandes aus Wolle, drängen sich analoge Prozesse der Transformation des Trägers nahezu auf.
Die Schafschur
Als Grundlage für die Entstehung der Wolle dient das Tier und sein Vlies. Vergleichbar ist die Ausgangssituation auf dem spirituellen Weg, wenn man als Grundlage die Bezeichnung nafs al-ammara ansieht. Mit dieser Bezeichnung wird eine Entwicklungsstufe des Menschen bezeichnet, dessen Leben vergleichbar mit den Tieren von Trieben gesteuert wird. Das Ablegen der tierischen Verhaltensweisen ist der erste Schritt auf dem Weg.
Das Sortieren, das Waschen und das Kardieren
In diesen Arbeitsschritten wird das Vlies in seine Qualitätsstufen eingeteilt, beim Waschen die Verunreinigungen entfernt und beim Kardieren ein Strang aus den einzelnen Wollfasern geformt. Durch verschiedene Übungen, spirituelle Praktiken und Techniken kann sich ein Mensch in der Stufe der nafs al–lawwama läutern und die weiteren nötigen Schritte für seine Transformation vorbereiten.
Das Spinnen
In diesem Arbeitsschritt wird aus den kardierten Wollfasern ein durchgehender Faden gefertigt. Dieser Schritt erfolgt in der Regel in der Entwicklungsstufe der nafs al-mulhima. In diesem Schritt entschließt sich ein Wanderer auf dem Weg meist, sich einer tariqa anzuschließen, welche immer es auch sein mag. Entscheidend für die ‚Wahl’ der tariqa ist das beim Sortieren erzielte Ergebnis. Je nach Beschaffenheit des Vlieses empfiehlt sich der eine oder andere Weg. Die Verknüpfung mit der silsila einer tariqa verbindet einzelne Fasern über Zeit und Raum hinweg zu einem fortlaufenden Faden.
Das Weiterverarbeiten
Aus dem gewonnenen Faden kann nun der Vorgang des Webens erfolgen. Dabei entsteht im schöpferischen Prozess ein Gewand auf Gottes Webstuhl. Die Verheißung der Entwicklungsstufen der nafs al mutma’inna wird im Qur’an in der 89. Sure in den Versen 27-30 ausgedrückt: „… oh du Mensch, der inneren Frieden erlangt hat! Kehre du zurück zu deinem Erhalter, wohlzufrieden (und Ihn) zufriedenstellend; gehe denn ein zusammen mit Meinen (anderen wahren) Dienern – ja, gehe du ein in Mein Paradies.“ Das Tragen eines wollenen Gewandes legt Zeugnis ab, diesen Schritt und damit inneren Frieden erlangt zu haben.
Wie so oft, und auch bereits in alten Texten beschrieben, ist es leichter einen wollenen Umhang zu tragen, als den inneren Prozess durchschritten zu sein. Und nicht jeder, der den inneren Prozess der Transformation durchlaufen hat, trägt ein wollenes Gewand. Wie sagte doch Hazrat Inayat Khan: „Gold ist, was sich bis ans Ende der Prüfung als echt bewährt.“