Zur Zeit ist es im Westen aus verschiedenen Gründen en vogue, den Islam und gleichzeitig den Qur’an zu bashen. Teils geschieht dies aus Marketinggründen, wie zum Beispiel bei Alice Schwarzer und anderen, um neu erschienene Bücher zu promoten. Und damit die Verkaufszahlen zu erhöhen, die ansonsten diese zur Zeit unbedeutenden, alternden ‚Popstars’ nie erreichen würden. Mit dem Schüren von unbewussten Ängsten wird hier manipulativ ein Bedrohungsszenario aufgebaut, dass meist jeder Faktenlage entbehrt. Das Marketingprinzip der Sarrazinierung greift hier voll. Noch vor etwa 20 Jahren wären entsprechende Publikationen in der berechtigten Bedeutungslosigkeit versunken, da sie keine Pawlovsche Glocke darstellten. Die Zeiten haben sich jedoch geändert.
Teils geschieht dies aber auch aus politischen Gründen, da nach dem Wegfall des Feindbildes ‚Kommunismus‘ ein anderes Feindbild herhalten musste. Dieses Feindbild wird benötigt, um vom Erkennen der wirklich bedeutungsvollen Gegensätze abzulenken. Feindbilder und die entsprechende Konditionierung helfen in der Auseinandersetzung von der tatsächlichen Konfliktlage abzulenken. Das taktische Motto ‚teile und herrsche‘ postulierten bereits die antiken Römer.
Es erscheint letztendlich gleichgültig, aus welcher Intention heraus der Angriff erfolgt. Die strategischen Muster sind nämlich immer identisch und folgen dem Muster der seit Jahrhunderten bewährten Diskretidierungstechniken der Propaganda. Genauso erfolgen dann reflektorisch die zumeist hilf- und erfolglosen Versuche, die Angriffe der Propaganda zu entkräften. Es werden Fakten gegeneinander aufgerechnet, Vergleiche herangezogen, Relativierungen eingesetzt und andere Rechtfertigungsversuche angeführt. Dies mag Menschen mit einer intellektuellen Grundausstattung zum Nachdenken anregen und eventuell zu Ergebnissen führen. Für die Breite der Menschen erweist sich dies allerdings als vergeblicher Versuch, da eine Mehrzahl der Menschen von Angst und Emotionen gesteuert ist. Die Verteilung dabei dürfte sich wohl analog nach dem Pareto-Prinzip (20:80) richten. Zudem zeigt sich die weitverbreitete temporäre Überlegenheit des Adrenalins über die Vernunft. Zumal die Masse der Menschen obendrein nicht darin geschult sein dürfte, Vernunft über die Auswirkungen von Neurotransmittern zu setzen. Johann Wolfgang von Goethe formulierte 1814 sprichwörtlich :
„Entzwei und gebiete! Tüchtig Wort;
Verein und leite! Bessrer Hort.“
Diese Maxime scheint heute vollkommen vergessen zu sein. Der Krieg ‚Arm gegen reich‘ ist der dritte Weltkrieg und findet bereits ohne erkennbares Schlachtfeld und ohne offene Kriegserklärung statt. Aus den erwähnten Gründen erscheint es einer Kriegspartei sinnvoll, gegen den Qur’an und den Islam zu hetzen. Beide bieten eine willkommene Projektionsfläche und zum reflektorischen Ausschütten von Neurotransmittern. Die zur Zeit auftretenden politischen Phänomene zeigen die Wirksamkeit dieser Strategie. Die Öffentlichkeit hat sich auf einen im Grunde unbedeutenden Nebenschauplatz umleiten lassen, verschleißt dort ihre Energie und verliert auf dem wirklichen Schauplatz eine Schlacht nach der anderen.
Die häufigste Antwort von Muslimen besteht darin, zu versuchen, diese Angriffe mit verschiedenen Methoden zu relativieren, zu entschuldigen oder sich mit Hilfe komplizierter Verbiegungen zu rechtfertigen. Die gängigste Methode besteht darin, gewisse Anteile des Qur’ans zu verleugnen, umzuinterpretieren oder auf andere Weise zu rechtfertigen. Dafür besteht keine Notwendigkeit und führt auch in eine vollkommen abwegige Richtung.
Denn es gibt noch eine weitere Ebene. Viele weitaus berufenere Menschen als ich haben verschiedene Kommentare und Interpretationen des Qur’ans hinterlassen und das Wissen der Menschheit damit bereichert. Und doch möchte ich einen Aspekt erwähnen, den ich als wichtig erachte.
Wie ich bereits in einem früheren Text schrieb: Der Imam Ja’far as-Sadiq (gest. 148/765) ergänzte diese Aussage von Alī ibn Abī Ṭālib weiterführend mit eigenen Worten: „Das Buch Gottes umfasst vier Dinge: es gibt die ausdrückliche Aussage (‘ibarat), es gibt die anspielende Sinndimension (isharat), es gibt die okkulten, auf die übersinnliche Welt bezogenen Bedeutungen (lata’if), es gibt die hohen spirituellen Lehren (haqua’iq, Plural von haqiqat). Der wörtliche Ausdruck ist für die einfachen Gläubigen (‘awamm). Die anspielende Sinndimension richtet sich an die Elite (khawass). Die okkulten Bedeutungen sind für die Freunde Gottes (Awliya) bestimmt. Die hohen spirituellen Lehren gehören den Propheten (anbiya, Plural von nabi).“
Ja’far as-Sadiq erweitert diese vier Bedeutungen bzw. Sinnstufen noch einmal auf sieben Modalitäten des Hinabstiegs (d.h. der Offenbarung des Qu’rans) und neun mögliche Wege die Texte des Qu’rans zu lesen und zu verstehen.
Als vertiefendes Beispiel wird gerne eine Geschichte über Άbd Allah Ibn Άbbas, einem der berühmtesten Gefährten Muhammads (saw), erzählt. Der Bezug zu diesem überlieferten Bericht ist der zwölfte Vers der 65. Sure des Qur’ans „Gott ist Der, der sieben Himmel erschaffen hat, und wie sie (die vielen Erscheinungen) von der Erde. Durch sie alle fließt von droben unaufhörlich Sein (schöpferischer) Wille herab, auf dass ihr erfahren mögt, dass Gott die Macht hat, alles zu wollen, und dass Gotte alle Dinge mit Seinem Wissen umschließt.“
Άbd Allah Ibn Άbbas schrie eines Tages lauthals inmitten einer am Berg Arafat versammelten Menschenmenge heraus: „Oh ihr Menschen! Wenn ich diesen Vers in eurer Gegenwart so auslegen würde, wie es der Prophet mir gegenüber tat, würdet ihr mich steinigen.“
Warum ist dieses Buch und sein Inhalt nun so gefährlich, dass anscheinend selbst Muslime einen Interpreten töten würden? Seit geraumer Zeit steht der Qur’an und sein Inhalt ja in diesem Sinne im Zentrum von Angriffen.
Letztendlich geht es wohl nicht wirklich um die vordergründigen Inhalte. Und hier liegt auch vielleicht einer der großen Irrtümer. Immer wieder sehen sich Muslime aktuell von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Anlässen gezwungen, den Qur’an und seinen Inhalt zu verteidigen. Selbsternannte Islamkenner und/oder politische Ideologen zitieren fleißig entsprechende Stellen im Qur’an, die den Islam als blutrünstige und gewalttätige Religion erscheinen lässt. Nicht selten werden zusätzlich uralt bekannte Ergänzungen herangezogen, deren Quelle sich auf die Propaganda der christlichen Kreuzzüge des Mittelalters zurückverfolgen lässt. Alles in allem ein scheinbar unüberwindliches Bollwerk der Beweislast für die vermeintlich grundsätzliche Verdorbenheit der Muslime und ihres Glaubens.
Immer wieder versuchen wohlmeinende Nichtmuslime und die nichtschweigende Minderheit des Muslime argumentativ gegen dieses Bollwerk anzurennen, oder es zumindest aufzuweichen. Egal, ob man als Argumentation den quasi kaum vorhandenen Unterschied zwischen bestimmten Aussagen christlicher und islamischer Quelltexte argumentativ gegeneinander aufrechnet, Allah als barmherzig darzustellen versucht oder sich bemüht, alles als eine Frage des Kontextes der Historie und der Interpretation bezeichnet. Alles das ist letztlich nur ein Versuch der Rechtfertigung, der ohnehin nicht zielführend ist. Was bleibt, ist auf der einen Seite die Wut auf die Muslime, die sich zum Teil als aktive Aggression zeigt, und auf der anderen Seite der Zorn frustrierter Muslime, der sich durch passive und aktive Aggression äußert. Und damit sind sich beide Seiten wohl näher, als ihnen vielleicht lieb ist.
Beide Seiten nehmen für sich in Anspruch, dass sie im Besitz der Wahrheit seien. Doch…
„…Es kann nur einen einzigen unbedingt unfehlbaren Prüfstein der Wahrheit geben; die Erkenntnis, wider die keine äußere Beweismittel standhalten können. Deshalb ist die äußere Rechtfertigung einer Lehre unzulänglich und kann nicht einmal als solche bestehen, ohne sich auf einen in der unfehlbaren und unmittelbaren Erkenntnis stehenden Meister zu berufen.
Es gibt zwei Quellen der Lehrbefugnis: Die Überlieferung oder der Einklang mit ihr und die Erkenntnis und der Einklang mit ihr….“ (Frithjof Schuon, Leitgedanken zur Urbesinnung, S. 89)
Von meinem geschätzten Lehrer Pir Vilayat Khan habe ich die Fragestellung gelernt: „what if…?“ Was wäre, wenn in der Tradition von Ibn Arabi, die gesamte Fragestellung durch eine Änderung der Fragestellung eine andere Perspektive bekäme. Das Zitat von Ibn Arabi lautet: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.“
Und so lässt sich als Antwort ein mutmaßlicher Grund für das Problem finden, der nicht nur ein Anlass ist. Der Qur’an und sein Inhalt werden mutmaßlich wohl nur aus einem Grund als gefährlich empfunden. Er ist ein Spiegel des eigenen Ichs. Und das macht ihn so gefährlich.
Es ist über die Möglichkeit geschrieben worden, dass der Qur’an als ein Versprechen dem Menschen gegenüber, durch das aufmerksame Lesen und Erforschen, zur spirituellen und freien Entfaltung führen kann.
Wer sich nur an das Äußere der geschriebenen Buchstaben klammert, übersieht einen entscheidenen Punkt. Der persische Sufi Meister Haydar Amuli schrieb in einem seiner Werke: „Buchstaben, die mit Tinte geschrieben sind, existieren nicht wirklich. Denn die Buchstaben sind nur verschiedene Formen, denen durch Konventionen bestimmte Bedeutungen gegeben worden sind. Was wirklich und konkret existiert, ist die Tinte. Man muss die Buchstaben als Modifikationen der Tinte erkennen.“
Zum Erforschen des Sinngehaltes des Qur’ans bieten sich zwei Wege an. Mittels tafsīr bietet sich die Möglichkeit, die eher äußeren Aspekte zu erforschen oder mit Hilfe von taʾwīl interpretatorisch vorzugehen.
Beide Methoden haben ihre Berechtigung, jedoch schrieb der berühmte Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī: „Der Qur’an ist wie eine Braut, die Dir nicht ihr Gesicht zeigt, solange Du ihr den Schleier wegziehst. Er ist fähig, sich in jeder Form zu zeigen, die er will. Wenn Du jedoch den Schleier nicht wegziehst, hinter ihm herläufst, sein Feld bewässerst und ihm von ferne dienst, dann zeigt er Dir sein Gesicht, ohne dass Du den Schleier wegziehen musst.“
Abgesehen davon, dass hier die von ‚Westlern‘ so gerne geleugnete tiefe Verbindung Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmīs zum Qur’an und seine tiefe Verwurzelung im Islam zu Tage tritt, findet sich ein wertvoller Hinweis. Nämlich eine Empfehlung eher die Methode des taʾwīl anzuwenden.
Die Methode des taʾwīl zeigt eine Entsprechung zu der westlichen Darstellung des ‚Schattens‘ im Sinne von Carl-Gustav Jung auf. Gerade und besonders in der Auseinandersetzung um den Qur’an tritt ein wichtiger Aspekt zutage. „Zunächst wird der eigene Schatten gewöhnlich negiert oder aber auf Personen und Objekte außerhalb des eigenen Ichs projiziert. Unbewusste Schattenprojektionen auf den jeweils anderen Menschen sind typische Elemente persönlicher wie auch kollektiver (z. B. nationaler) Konflikte“. (Carl Gustav Jung: Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten, Erstpublikation 1935, überarbeitet 1954. In: Gesammelte Werke)
Auf Wikipedia wird ausgeführt – Nach ihrer Verdrängung in das Unbewusste – bzw. der Vermeidung, dass ein archetypisch bedingter Schatten bewusster werden darf – entfalten die negativen Züge der eigenen Persönlichkeit meist erhebliche Dynamik und Wirksamkeit… …es kann zu Angst- und Zwangsneurosen führen.
Die Projektion des Schattens nach außen ist auch Teil des psychiatrischen Krankheitsbildes der Paranoia sowie allgemein von Wahnvorstellungen. Krankhafte Schattenprojektion (wo der Schatten unter Umständen auch in seinem kollektiven Aspekt die ganze Persönlichkeit beherrscht) kann schlimmste Folgen haben; dieser Prozess war auch ein konstituierender Teil mit vielen Facetten in der Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus. So sagte Adolf Hitler z.B. über Winston Churchill: „Seit mehr als fünf Jahren jagt dieser Mann wie ein Verrückter in Europa umher, auf der Suche nach etwas, das er in Brand setzen könnte.“
Es ist also die dringende Frage zu stellen, inwieweit die Angriffe auf den Qur’an und damit die Muslime nicht Ausdruck dieser psychologischen Betrachtungsweise ist. Alle Menschen haben Anteile in sich, mit denen uns der Qur’an in seinen Aussagen konfrontiert. Wer dies abstreitet, ist ein Lügner oder ein Verdränger. Es wäre also hilfreicher, sich seinen Schatten zu stellen und dazu bietet uns der Qur’an einen Impuls. Die Aufforderung dazu ist im Qur’an selbst enthalten: (6/104-105) „Mittel der Einsicht sind nun zu euch von eurem Erhalter gekommen (durch diese göttliche Schrift). Wer immer deshalb wählt zu sehen, tut dies zu seinem eigenen Wohl; und wer immer wählt blind zu bleiben, tut dies zu seinem eigenen Schaden. Und (sage zu den Herzensblinden): „ Ich bin nicht euer Wächter.“ Und so geben wir Unseren Botschaften viele Facetten. Und damit sie sagen mögen: „Du hast Dir (all dies) wohl zu Herzen genommen.“ und damit Wir es Leuten mit (angeborenem) Wissen klarmachen mögen.“
Augen auf und durch ist die Devise.