Es gibt eine Arbeit jenseits des Wissens, erkenne dies.
Arbeite nicht daran, Juwelen zu bekommen, sei mein.
Das Herz ist eine vorübergehende Bleibe, lass es und komm.
Die Seele ist der letzte Wohnsitz, erkenne dies.
Sheikh Hamid al Din Nagawri (13. Jhd. Chr. ZR)
Um sich dieser Arbeit aus ganzem Herzen widmen zu können, wird im tasawwuf/Sufismus die Praxis des tazkiyah an nafs gelehrt. Im Allgemeinen wird dieser Begriff mit ‚Reinigung der Seele‘ übersetzt. Aber wie W. Chittick beschreibt, kann dieser Begriff auch in anderem Zusammenhang verwendet werden. ,Die Mutualität dieser beiden Bedeutungen kann in unterschiedlichen Ansätzen der Verwendungen des Wortes tazkiya angenommen werden. Aus den Wörterbüchern entnimmt man, dass es sowohl für das Aussäen von Pflanzensamen als auch für das Aufziehen von Nutztieren benutzt werden kann, beides hat weder mit Reinigen noch mit Verfeinern zu tun, sondern mit etwas, was diese beiden Bedeutungen verbindet. Wenn Samen in die Erde eingebracht werden, reinigt sie dies von fremden Anhaftungen und gibt sie der Gnade Gottes preis – Erde, Wasser und Sonnenlicht. Dies bringt den Samen den Anstoß zum Vermehren und Wachsen. Jene, die den Samen einpflanzen, ‚reinigen‘ ihn weder, noch ‚verfeinern‘ sie ihn. Vielmehr bringen sie ihn in eine Situation, in der er gedeiht, wächst und sein eigenes Potential hervorbringt. Deswegen bedeutet tazkiyat an-nafs nicht nur ‚Reinigen der Seele‘ sondern auch, der Seele das Wachsen und Gedeihen durch das Öffnen für die Gaben Gottes zu erlauben. Eine treffendere Übersetzung ist wahrscheinlich ‚das Kultivieren der Seele‘. (aus – Sufism: A Beginner‘s Guide.)
Bei der ernsthaften Beschäftigung mit den traditionellen Inhalten der Lehrinhalte zu dieser Aufgabenstellung, ist die Fülle des vorliegenden Materials zu diesem Thema schier unerschöpflich. Als Beispiel soll hier ein Ausschnitt aus einem Werk des 15. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung dienen: „Wisse, möge Gott dir und uns Erfolg geben und unsere diesseitigen und anderen weltlichen Leben bereinigen und uns das Festhalten am Weg der Wahrheit auf unseren Reisen und in unserem Verweilen gewähren, dass die Umkehr ein Schlüssel ist, dass die Achtsamkeit Gott gegenüber gewaltig ist und dass Aufrichtigkeit die Quelle der Wiedergutmachung ist.
Außerdem ist ein Diener niemals frei von entweder Unzulänglichkeit, Versäumnissen oder Trägheit. Deshalb vernachlässige niemals die Umkehr und wende dich niemals vom Akt der Rückkehr zu Gott ab und vernachlässige niemals Handlungen, die dich Gott näher bringen. Wahrlich, jedes Mal, wenn eines dieser drei [Dinge] eintritt, bereue und kehre um:
Immer wenn du einen Fehler machst, höre und folge den Geboten Gottes. Wann immer du Versäumnisse oder mangelnden Enthusiasmus zeigst, lasse nicht von deinen Bemühungen ab. Mach zu deinem Hauptanliegen, alles Missfallende von deinem Äußeren Zustand zu entfernen und erhalte ihn dann durch beständige Beratung.
Fahre fort damit bis du merkst, dass dein Fliehen vor allem äußerlich Missfallendem deine zweite Natur und dein Meiden der Grenzen zu den verbotenen Dingen wie ein schätzendes Netz für dich geworden ist.
Nun ist es an der Zeit, sich nach innen zu wenden, zur Anwesenheit deines Herzens und seiner Wirklichkeit, sowohl mit Nachdenken über die Zeichen und Namen Gottes, als auch mit dem Gottesgedenken. Haste nicht dem Ergebnis entgegen, bevor du den Anfang gemeistert hast.
Aber beginne auch nicht, ohne auf das Ergebnis zu schauen. Dies ist so, weil derjenige, der den Anfang am Ende sucht, gnadenvolle Fürsorge verliert; und derjenige, der das Ergebnis am Anfang sucht, verliert gnadenvolle Führung.
Handle nach Prinzipien und angemessenen Normen und nicht nach Geschichten und Fantasien. Denke erst gar nicht über Erzählungen nach, wie Dinge bei anderen abgelaufen sind, außer du nimmst sie als Elixier, deine Entschlossenheit zu stärken. Gewiss aber nicht als Empfehlung aufgrund ihrer äußerlichen Gestalt oder dem, was sie uns zu sagen scheinen.
Verlasse dich in all dem auf einen klaren Weg, auf den du dich beziehen kannst und auf ein Fundament, auf dass du dich in all deinen Zuständen verlassen kannst. Der beste Weg ist der von Ibn Ata Allah, da in diesem eine klare Ausrichtung auf Gott liegt.
Nimm nichts von den Worten anderer, es sei denn, es ist im Einklang mit deinem eigenen Weg, aber beuge dich ihren Implikationen, wenn du Verwirklichung anstrebst.
Vermeide unter allen Umständen alle Formen eitlen und verdorbenen Redens. Lass alles beiseite, dessen unmittelbaren Nutzen du nicht erkennen kannst.
Nimm dich in Acht davor, besonders hart zu dir selbst zu sein, bevor du nicht Beherrschung über dich erlangt hast. Aber sei auch vorsichtig, nicht zu lax mit dir zu sein, bei allem, was göttliche Regeln angeht. Dies deswegen, weil das Selbst unentwegt vor dem Guten Maß in allen Dingen flieht und zum Extremen tendiert, beim Abweichen wie bei der Rechtleitung.
Suche einen Gefährten, der dich bei deinen Angelegenheiten unterstützt und nehme seinen Rat an sowohl in Angelegenheiten deiner inneren Zustände als auch äußerlichen Belange. Wenn du seine Gesellschaft wirklich willst, dann behandle ihn entsprechend seines Zustands und gib ihm deinen Rat entsprechend seiner Unfähigkeiten sowie seiner Fähigkeiten, denn ein perfekter Freund kann nicht mehr gefunden werden. In diesen Zeiten gibt es kaum einen tauglichen Begleiter, der annehmbar ist!
Und nimm dich vor der Mehrheit der Leute in Angelegenheiten, die deine jenseitigen und weltlichen Stationen betreffen, in Acht, es sei denn, du hast sichergestellt, dass die Person eine intakte Beziehung mit ihrem Schöpfer hat, basierend auf Wissen, das frei von Launen oder Liebe zur Führerschaft ist und dass sie einen gesunden Intellekt besitzt, frei von Tücken versteckter Hintergedanken.
Sei nicht achtlos ob der Machenschaften anderer oder ihrer verborgenen Zustände. Überdenke beide in Bezug auf Ursprung und Handlungen. Eine Person von gutem Charakter und guter Erziehung wird dich kaum mit anderem als Gutem beeinflussen. Und dennoch wird eine Person niederer Erziehung sie veranlassen, dich zu missachten, wenn die Zeiten hart werden.
Sei besonders aufmerksam ob der vorherrschenden Eigenschaften eines Volkes in dessen Land und sei nicht achtlos bezüglich der göttlichen Weisheit in der Schöpfung. Und beachte das Zusammensein und das Getrenntsein, worüber wir schon in unserem Buch Qawa’id al-Tasawwuf berichtet haben; so schaue dort nach.
Organisiere deine Zeit gemäß den zeitlichen Notwendigkeiten, mit Güte und Toleranz. Und sei auf der Hut vor Härte sowie Lässigkeit. Dies ist so, weil zu viel Lässigkeit in den erlaubten Dingen das Herz auf dessen Reise zurückzieht, bis sogar ein Mann der Entschlossenheit wie ein törichter Junge aussieht.
Arbeite für diese Welt als ob du ewig leben würdest, aber arbeite für das nächste Leben als ob du morgen sterben würdest. Folglich vernachlässige nicht die Äußerlichkeiten deiner weltlichen Bedürfnisse. Derweil sei nicht achtlos deines Endes und endgültigen Ruhestätte.
Sei äußerst wachsam, Positionen von Führerschaft zu vermeiden, aber solltest du mit diesen Dingen geprüft werden, kenne zumindest deine eigenen Grenzen. Sei absolut ehrlich zu Gott mit der Ernsthaftigkeit desjenigen, der gänzlich weiß, wer die Ansprüche an ihn stellt. Überlasse dich restlos Seiner Bestimmung mit der Ergebenheit desjenigen, der weiß, dass er Ihn niemals bezwingen kann. Habe ein sicheres Fundament in all deinen Belangen und du wirst vor ihren Gefahren geschützt sein.
Strukturiere deine Gebetspraktiken und du wirst deine Zeit ausgedehnt finden, gemäß dem Segen in ihnen.
Sei niemals fanatisch mit irgendetwas, egal ob es die Wahrheit oder etwas Unwahres betrifft, weil so dein Herz in einem gesunden Zustand anderen gegenüber bleibt.
Erhebe niemals auf etwas, zu dem du berechtigt bist, Anspruch, ganz zu schweigen auf etwas, zu dem du nicht berechtigt bist und du wirst geschützt sein vor Tricksereien und Verrat.
Dies ist so, weil jeder, der einen Rang über seinem eigenen behauptet, Erniedrigung erfährt. Wohingegen die, die einen Rang behaupten, den sie für sich haben wollen, von diesem abgeschnitten werden. Während diejenigen, die einen Rang unter ihrem tatsächlichem geltend machen, zu Rängen emporgehoben werden, die sogar noch höher sind, als ihnen eigentlich gebühren würde.
Gib deinem Begleiter niemals etwas Anderes von deinem Zustand als das, was sein eigener Zustand will. Dies ist deswegen, weil er Geringschätzung zeigen wird, wenn du auf seine Stufe hinabgehst. Wenn du aber versuchst, ihn auf deine Stufe hinaufzuziehen, wird er sich von dir abwenden.
Fordere niemals ein Recht von irgendjemand, ob Vertrauter oder Fremder. Der Grund hierfür ist, dass ein Fremder dir in Wirklichkeit nichts schuldet und jemand, der dir nahesteht, ist zu kostbar, deinen Tadel auf sich zu ziehen.
Nimm niemals an, dass irgendjemand auf dieser Welt deine Situation wirklich verstehen kann, außer aus der Perspektive seiner eigenen Lebenslage. Dies ist deswegen, weil in Wirklichkeit ein jeder die Dinge nur entsprechend seines Bezugsrahmens und seines persönlichen Weges sieht. Wenn jedoch Absicht, Zweck und Streben ähnlich sind, neigen Menschen dazu, zusammen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten.
Verharmlose niemals irgendein Gerede, welches abwesende Personen mit einschließt, auch wenn kein Schaden darin liegt, bezüglich der Möglichkeit, dass Schaden eintreten könnte. Behüte deine Geheimnisse auch, wenn du dich mit jemandem sicher fühlst, weil derjenige, dem du dein Geheimnis ausplauderst, ist kein sicherer Platz als dein eigenes Herz, dem es entspringt.“
Quelle: Zarrūq, Aḥmad: Iʿānat al-mutawaǧǧih al-miskīn ilā ṭarīq al-fatḥ wa t-tamkīn, Tunis: Dār al-Imam Ibn ʿArafa 2012, S. 90-96.
Die Bedeutung der Arbeit an der eigenen Entwicklung und der zu ziehenden Konsequenzen stellte al-Ghazali mit eindrücklichen Worten klar: „Wenn du studierst oder nach Wissen suchst, dann sollte dieses Wissen dein Herz verändern und deine Seele reinigen. Hättet ihr nur noch eine Woche zu leben, dann würdet ihr euch sicher nicht dem Studium der Rechtswissenschaft widmen, oder der Ethik und gelehrten Theologie, denn jene würden euch nicht helfen. Vielmehr würdet ihr die verbleibende Zeit mit der Überprüfung eures Herzens verbringen und die Eigenschaften eurer Seele zu verbessern. Aus: Ajjuhaâl walad – Ratschläge an einen Sohn)
Es fehlt nicht an den verschiedensten Handlungsanweisungen oder Vorschriften, wie dieses Ziel erreicht werden könnte. Wie so oft, zeigt sich auch hier das Dilemma der Entscheidung für den Weg zum Ziel. Für einige ist es unabdingbar, sich zur ‚Reinigung der Seele‘ ausschließlich an orthodoxe Vorschriften und Regeln zu halten. Andere wiederum lehnen alles Althergebrachte komplett ab, verzichten auf jede Regeln und Vorschriften und setzen ausschließlich auf die sogenannte Moderne. Eine Art Mittelweg wird bereits seit dem 10. Jhd. chr. Zeitrechnung als Quelle der Inspiration und Nachsinnen über das eigene Verhalten in Sufi-Kreisen verwendet. Das von Abd ar-Rahman as-Sulami« verfasste Manuskript: Kitab al-futuwwah (etwa: Das Buch der Ritterlichkeit). In diesem Text erläutert as-Sulami anhand von Lehrgeschichten und Qur‘anzitaten Sinn und Bedeutung der Begriffe Mitleid, Liebe, Freundschaft, Großzügigkeit, Gastfreundschaft und Hinwendung. Im Text enthalten sind Vorschläge für Handlungsweisen, die zur Schulung von Tugenden und spiritueller Entwicklung des Menschen dienen können.
Der Titel scheint sich zwar auf Männer zu beziehen, meistens wird der Begriff futuwwa jedoch geschlechtsneutral verwendet. Allerdings hat as-Sulami als Erweiterung ein spezielles Buch hinterlassen, das sich mit Frauen im frühen Sufismus / tasawwuf beschäftigt. As-Sulami verwendet hier den Begriff an-niswa zwar als eine Art Gegenteil von al-Fatā (tapferer, junger Mann), aber letztendlich beinhaltet an-niswa das Bestreben der Perfektion einer gesamten Person. Eine komplette Person beinhaltet unabhängig vom Geschlecht, die jeweils beiden anderen Anteile. Die Arbeit an der Entwicklung der eigenen Person bis hin zum Idealziel – dem al-Insān al-Kāmil (perfekte Mensch) – ist geschlechtsunabhängig und erfordert nur eins. Das Bemühen um ein angemessenes Verhalten.