Die Weisheit der Narren

Wenn man sich längere Zeit mit dem Sufismus / tasawwuf beschäftigt, bleibt es nicht aus, dass man der „Figur“ Nasr-ud-din begegnet. Je nach Region trägt er verschiedene Namen. In der Türkei ist er etwa als Hodscha Nasreddin bekannt. Im Indo-Pakistanischen Gebiet gibt es eine Figar namens Watayo Faqir, im persischen Kulturkreis firmiert er unter Mollah Nasruddin, im arabischen oft nur unter seinem Namen ohne Titel. Hinter der Maske des „Narren“ vermittelt Nasr-ud-din Weisheit und Erkenntnis. Die Sufis werden in diesem Sinne oft als Narren bezeichnet, weil ihre Erkenntnisse meist dort angesiedelt sind, wo gewöhnliche Intelligenz oder akademische Bildung nicht greifen.

In der Einführung zu einem Buch von Idris Shah heißt es: „Was engstirnige Denker Weisheit nennen, halten Sufis oft für Unsinn, und sie bezeichnen sich daher manchmal selbst als ,Narren’. Durch einen Glücksfall hat das Wort für den ,Heiligen’ (wali), gemäß der Entsprechung von Buchstaben und Zahlen im Arabischen, den gleichen numerischen Wert wie das Wort für den ,Narren’ (balid). Wir haben also doppelten Grund, die großen Sufis als unsere eigenen Narren anzusehen.” Es kursieren hunderte dieser Geschichten, die teils in der breiten Öffentlichkeit als Witze, sogar in Boulevardzeitungen, erzählt werden, oder aber als Lehrgeschichten von Sufiorden / turuq verwendet werden. Ein Mythos besagt, dass sieben dieser Geschichten, in der richtigen Reihenfolge erzählt, zur Erweckung führen könnten. Neben der Geschichte, in der Nasr ud din im Schein einer Laterne seinen an anderer Stelle verlorenen Schlüssel sucht, dürfte die folgende Geschichte eine der bekanntesten sein.

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Lass die Menschen gedeihen

Süleyman I, der einst über ein riesiges Reich herrschte, stellte sich eines Tages die Frage, aus welchen Gründen ein Staat wohl untergehe könne. Diese Frage richtete er hilfesuchend an den Sufi-Meister Yahya Efendi, der in einem Brief lediglich antwortete: ,Was geht mich das an?’

Anstelle ihn zu bestrafen, wie es Despoten und Tyrannen üblicherweise tun, suchte Süleyman den Sheikh auf und wollte den tieferen Sinn hinter der knappen, scheinbar respektlosen Antwort erfahren.

Sheikh Yahya Efendi erklärte nun: „Wenn die Unterdrückung sich in einem Staat ausbreitet, die Ungerechtigkeit offenkundig wird und diejenigen, die davon hören, sagen: .Was geht mich das an?’, und zusätzlich die Schafe nicht von den Wölfen, sondern von den Hirten gefressen werden und diejenigen, die das wissen, schweigend vorübergehen; wenn der Hilferuf der Armen, Bedürftigen, der Alleinstehenden zum Himmel hinaufsteigt, und niemand außer den Steinen diesen Hilferuf vernimmt – nun, dann geht ein Staat unter. […] All diese Dinge fangen damit an, dass man sagt ,Was geht mich das an’. Deshalb ist es erforderlich, ,Was geht mich das an’ nicht zu sagen.“

Obwohl es im Sufismus / tasawwuf eigentlich üblich ist, sich weniger mit tagespolitischen Themen zu beschäftigen, drängt sich diese Geschichte über Sheikh Yahya Efendi aktuell auf. Die weltpolitischen Wetterlage ist dazu angetan, einen wichtigen Rat nicht aus den Augen zu verlieren, den Mullah Nasrudduin seinen Schülern einst gab. Einer der Schüler Mullah Nasruddins fragte:
„Welche Leistung ist höher zu achten: die eines Sultans, der ein fremdes Land erobert hat, die eines Sultans, der es hätte tun können, aber darauf verzichtete, oder die eines Mannes, der einen Sultan davon abgehalten hat?“

„Keine Ahnung“, sagte der Mullah, „aber ich kenne eine Aufgabe, die noch schwieriger ist als alle drei zusammen.“
„Und welche ist das?“
„Euch beizubringen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.“

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